Kommentar

Zwei Modelle

In China wird bald eine neue Führungsgeneration die Macht übernehmen. Bei dem Kampf um politische Posten geht es auch um eine inhaltliche Richtungsentscheidung.

Von Nora Sausmikat

China befindet sich mitten in einem heftigen Kampf um Ämterbesetzungen. Sieben der neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas werden dieses Jahr neu ernannt. Ende des Jahres wählt der Parteitag ein neues Staatsoberhaupt. Wenn Präsident Hu ­Jintao im Frühjahr 2013 zurücktritt, wird voraussichtlich Xi Jinping sein Amt übernehmen. Den Ministerpräsidenten Wen Jiabao löst sein aktueller Vizepremier Li Keqiang ab.

Noch bis Februar schien der Übergang glatt zu laufen. Im Oktober wurde Vizepräsident Xi in die Zentrale Militärkommission aufgenommen – in der Regel der letzte Schritt vor dem Präsidentenamt. Beobachtern zufolge war das jedoch ein Rückschlag für Li, den Favoriten des Präsidenten Hu. Die Experten sprechen deshalb bereits von einer Spaltung innerhalb der Führungsetage, denn Xi gilt als Favorit des ehemaligen Präsidenten Jiang Zemin. Xis Beförderung zum Präsidenten scheint mittlerweile sicher, die Diskussion um die Besetzung des Politbüros wird sich aber wohl fortsetzen.

Bei den innerparteilichen Kämpfen geht es nicht nur um persönliche Karrie­reinteressen – es geht um Politik. Zwei politische Modelle stehen zur Wahl, benannt nach zwei Städten: das sogenannte „Chongqing-Modell“ und das „Guang­zhou-Modell“. Die Ereignisse der letzten drei Monate lassen vermuten, dass Letzteres sich durchsetzen wird.

Chongqing ist Chinas bevölkerungsreichste Stadt, gelegen im westlichen Hinterland. Sie musste in den letzten Jahren mit den sich schnell entwickelnden Küstenregionen Schritt halten. Chongqing wurde zu einer Brutstätte von Vetternwirtschaft. Die soziale Ungleichheit wuchs, verschärft noch durch die zunehmende Ansiedelung arbeitsintensiver Industrien.

Guangzhou ist die Hauptstadt der Provinz Guangdong. Hier begann Chinas wirtschaftliche Liberalisierung. Die Industrie- und Handelsstadt wird daher auch „Fabrik der Welt“ genannt. Die Stadt versucht heute, von arbeitsintensiver Industrie auf den High-Tech-Sektor umzustellen.

Chongqings Parteichef Bo Xilai fiel jüngst in Ungnade und wurde abgesetzt. Als politischer Linker setzte er sich medienwirksam gegen Ungleichheit und Armut ein und unterstützte Staatsunternehmen. Er befürwortete staatlich gelenkte Modernisierung und liebäugelte mit nostalgischen Mao-Parolen wie „Führe ein einfaches Leben und kämpfe hart“. Ein neues „rotes BIP“ sollte Indikatoren sozialen Wohlergehens messen. Bo schätzte Massenmobilisierungen im Stil der chaotischen und brutalen Kulturrevolution, die das Regime in Peking heute missbilligt. Besonders setzte er sich für harte Korruptionsbekämpfung ein. Dabei missachtete er manche rechtliche Grundlage. Die Ermittlungen bezogen jedoch auch Führungskräfte auf höchster Ebene ein, was ihm viel Sympathie einbrachte. Nun werden die Details seines eigenen Wohlstands bekannt und bringen tief verwurzelte Korruption ans Licht.

Guangzhous Parteichef Wang Yang hat sich selbst nie so in den Vordergrund gestellt. Er hat den Ruf eines ökonomischen Modernisierers und bevorzugt marktorientierte Ansätze. Als ehemaliger Parteichef Chonqings legte er dort den Grundstein für den Fortschritt. Im Gegensatz zu Bo bietet Yangs Politik keine offensichtlichen und schnellen Lösungen für Probleme wie die wachsende öffentliche Unzufriedenheit.

Für die Parteiführung in Peking repräsentieren Wang und Bo jeweils die liberalen und linkskonservativen Kräfte der Partei. Da die Entscheidungsfindung in der Kommunistischen Partei undurchsichtig ist, müssen Beobachter zwischen den Zeilen lesen.

Für viele galt Bo als aufsteigender Star. Nun sind er und seine Familie in Korruptions- und gar Mordfälle verstrickt. Ob sie wirklich schuldig sind, ist unklar. Chinas Gerichtshöfe sind nicht unabhängig und viele Rechtsfälle haben politische Motive – vor allem, wenn Parteiführer beteiligt sind. Premierminister Wen ist für relativ liberale Rhetorik bekannt und scheint sicherstellen zu wollen, dass die nächste Führungsgeneration nicht die totalitären Kampagnen der Mao-Ära aufgreift. Ob er damit Erfolg haben wird, ist zu diesem Zeitpunkt kaum zu beurteilen.

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