Kommentar

Gipfel? Welcher Gipfel?

Die Reaktion der G20 in Cannes auf die schwelende Finanzkrise war zu schwach und kam zu spät. Die Menschheit wird für dieses Versagen noch teuer bezahlen.

Von Jayati Ghosh

Als die Spitzenleute der G20 im November in Cannes konferierten, war die Weltwirtschaft eindeutig an der Schwelle zur nächsten Finanzkrise – oder schon ein paar Schritte weiter. Schnelles, koordiniertes und wirkungsvolles Handeln war seit Anfang 2009 nicht mehr so nötig gewesen. Damals wurde die G20 mit der Entscheidung für expansive Wirtschaftspolitik rund um den Globus der Herausforderung gerecht.

Heute sind die Probleme aber vermutlich größer – nicht zuletzt, weil das Aktionsprogramm von 2009 nicht reichte. Es ging die globalen Ungleichgewichte, die zur Krise geführt hatten, nicht an. Schlimmer noch: Finanzinstitutionen wurden gerettet, ohne dass neue Regeln sie künftig zu verantwortlicherem Geschäftsgebaren zwingen würden. Deshalb folgt nun eine zweite Bankenkrise, die selbst Wirtschaftsblätter irreführend als Krise der Staatsfinanzen darstellen. Das Epizentrum ist in Europa.

Die rasanten Ereignisse in der Eurozone überschatteten den Gipfel; drohten ihn sogar scheitern zu lassen. Die Abschlusserklärung enthält viele fromme Wünsche, aber keine klaren Ansagen zu frischem Geld, neuen Regulierungen oder Politikwechsel. Die Diplomatensprache verdeckt den Dissens nicht, der den Gipfel prägte und die Weltwirtschaft noch lange belasten wird.

Verzweifelt wollten europäische Politiker Kollegen aus China, Brasilien, Russland und anderen Staaten mit großen Devisenreserven dazu bringen, Geld für die vorgeschlagene (und massiv gehebelte) European Financial Stability Facility bereitzustellen. Die so Angesprochenen erwiderten zu Recht, sie könnten ihren in der Regel viel ­ärmeren Völkern keinen großen Mittelaufwand zur Rettung reicherer Nationen vermitteln, zumal diese in der Lage seien, sich selbst zu helfen. Sie wollten wissen, weshalb Länder mit hohen Reserven wie Deutschland, die Niederlande oder Finnland nicht selbst tun, was sie predigen, wo es doch um ihre eigene Währungsunion geht.

Kurz nach dem Gipfel forderten China und Indien in einer bemerkenswerten gemeinsamen Erklärung, westliche Nationen müssten „verantwortungsvolle makroökonomische Politik betreiben, um Schulden und Finanzstabilität kompetent zu managen“. Der selbstbewusste, belehrende Ton war neu, aber das Statement blieb vage.

Leider war auch einiges, was Indien und China in Cannes vertreten hatten, nicht hilfreich. Indien setzte sich gegen eine Finanztransaktionssteuer ein, obwohl sie international Mittel für wichtige soziale Aufgaben mobilisieren könnte. China klagte über faule, alternde und verfallende Gesellschaften, die ihre Ausgaben nicht selbst finanzieren können – und übersah dabei, dass eben dieses Verhalten seinen eigenen Handelsüberschuss nährt. Aus ähnlichen Gründen klingt auch Deutschlands Insistieren auf Austerität hohl. Deutsche Exporteure leben von den Schulden öffentlicher wie privater Haushalte anderswo.

Es fiel auf, dass Europas Spitzenpolitiker nun auf ihrem eigenen Kontinent dem Finanzsektor Vorrang vor Demokratie geben. Entwicklungsländer, die diese Politik in den vergangenen Jahrzehnten mit meist schmerzhaften Folgen durchlitten haben, sehen jetzt, wie dieses Denken auch im Westen zum Zuge kommt. Griechenlands Premier Giorgos Papandreou musste zurücktreten, nachdem die Bosse der EU seinen – in der Tat zu spät angemeldeten – Plan einer Volksabstimmung über die Sparpolitik demütigend abgelehnt hatten. Italiens Silvio Berlusconi hätte schon längst gestürzt gehört. Nun schied er aber auf Druck der Finanzmärkte hin und nicht auf Grund von Wahlen aus dem Amt. Beide Länder bekommen jetzt „technokratische“ Regierungen, die Austerität auch gegen öffentlichen Druck durchsetzen sollen.

Cannes war eine vertane Chance. Die Welt braucht ein klares makroökonomisches Erholungsprogramm, damit Defizitländer ihre Schulden durch Wachstum ­bewältigen können und nicht in einem austeritätsinduzierten Abwärtssog versinken. Anstatt die Finanzwelt endlich zu regulieren, haben die G20 sich als deren Diener erwiesen. Schattenbanken, Derivative und Rohstoffspekulation werden noch großen Schaden anrichten. Die Weltwirtschaft wird für diese Versäumnisse teuer bezahlen – vielleicht schon eher, als wir heute glauben.

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