Interview

„Die Menschen sind misstrauisch“

Vor neun Jahren haben US-Truppen Kabul eingenommen. Seither scheint Afghanistan kaum voranzukommen, sondern immer tiefer im Bürgerkrieg zu versinken. Conrad Schetter, Afghanistanexperte am Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung, erklärt im Interview, was entwicklungspolitisch falsch gelaufen ist.

[ Interview mit Conrad Schetter ]

Warum hat die Entwicklungspolitik in Afghanis­tan nicht mehr erreicht?
Es wurden viele Fehler gemacht. Der größte war vermutlich die starke Fixierung auf den Staat. Die Geber haben bis heute nicht recht begriffen, dass Afghanistan nicht vertikal von oben gesteuert wird, sondern dass die Gesellschaft sich horizontal in örtlichen Machtarrangements selbst reguliert. Solche Arrangements sind sicherlich oft instabil, aber es gibt sie, und sie werden respektiert. Der Wunsch, einen starken Zentralstaat aufzubauen, entspricht deshalb nicht der Lebenswirklichkeit der Menschen. Im Raum Kundus zum Beispiel gibt es ein weitverzweigtes Bewässerungssystem. Es funktioniert, obwohl es nicht staatlich verwaltet wird.

Stören entwicklungspolitische Interventionen die örtliche Machtbalance?
Das Risiko besteht. In Afghanistan haben verschiedene Geberorganisationen so getan, als könnten sie bei Null anfangen. In der Praxis kommt es dann aber vor, dass sie bestimmte Interessen gefährden, was Widerstand hervorruft. Warlords spielen eine Rolle, religiöse Führer ebenfalls. Die Machtbalance ist von Provinz zu Provinz, oft sogar von Dorf zu Dorf, unterschiedlich. Wer die bestehenden Netzwerke nicht beachtet, gerät schnell in Schwierigkeiten.

Die Geber haben ihre Entwicklungspolitik in Afghanistan kaum untereinander koordiniert, wie das etwa den Vorstellungen der Paris
Declaration on Aid Effectiveness, die sie ja alle unterschrieben haben, entsprechen würde. Hätten die Geber mehr erreicht, wenn sie mehr Mittel zur Verfügung gestellt hätten, damit die Regierung von Präsident Hamid Karsai Programme durchführen kann?

Es stimmt, dass die Geber sich nicht an die Prinzipien der Paris Declaration gehalten haben. Ihre Entwick­lungspolitik ist tatsächlich recht fragmentarisch. In gewisser Weise entspricht das aber auch einem extrem fragmentierten Land. Wie gesagt, die Idee des funktionstüchtigen Zentralstaats ist den Menschen in Afghanistan eher fremd. Richtig ist aber sicherlich, dass die Geber sich zu wenig damit beschäftigt haben, was die Bevölkerung für normal und für erstrebenswert hält.

Muss nicht erst Sicherheit geschaffen werden, bevor Entwicklungsinitiativen Erfolg haben können?
Das kann ich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Mit Blick auf Afghanistan haben beide Begriffe – „Sicherheit“ und „Entwicklung“ – viel zu viele Konnotationen. Je nachdem, wer sie verwendet, bedeuten sie etwas anderes. Für die Bevölkerung zum Beispiel bedeutet Sicherheit nicht nur Schutz vor physischer Gewalt, sondern auch zuverlässige Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser und ein einigermaßen stabiler Erwartungshorizont. Für Soldaten dagegen bedeutet Sicherheit vor allem: Hier bin ich vor Schüssen und Bomben sicher. Bemerkenswert ist auch, wie die Ziele der internationalen Verbündeten im Laufe der Jahre zurückgestuft wurden. Anfangs war von Zivilgesellschaft die Rede, dann von State-Building, dann von Sicherheit, jetzt nur noch von Stabilität. Allein an der verwendeten Begrifflichkeit lässt sich ablesen, dass Visionen für das Land immer mehr an Bedeutung verloren haben.

Die Counter-Insurgency-Doktrin des US-Militärs betont aber die Sicherheit der Zivilbevölkerung, und zwar durchaus in einem umfassenden Sinn.
Ja, das aktuelle Field Manual ist eine intellektuelle und rhetorische Meisterleistung, keine Frage. Ideologisch ist daran nichts auszusetzen. Der Haken ist aber, dass die Praxis sich nicht an klug formulierte Sätze hält. Soldaten sind nun mal keine kultursensiblen Sozialarbeiter, sie können das auch gar nicht sein, denn sie werden zum Kämpfen ausgebildet. Im Einsatzgebiet dominiert dann in der Truppe ganz automatisch das militärische Sicherheitsverständnis – und das ist auch verständlich, denn die Leute fürchten ja um ihr Leben.

Die Geschichte lehrt, dass Kriege gegen Aufständische nur selten gewonnen werden. Meinen Sie, dass die NATO unverrichteter Dinge abziehen wird?
Ich glaube nicht, dass die USA sich völlig aus diesem geostrategisch wichtigen Land zurückziehen werden. Und solange die Amerikaner da bleiben, dürften sie auch von Verbündeten unterstützt werden. Ich glaube aber auch nicht, dass es in dem Sinne Erfolg geben wird, dass in wenigen Jahren Afghanistan ein demokratischer Staat nach unseren Vorstellungen wäre, von dem keine Unruhe mehr ausgeht. Meine Prognose ist, dass die NATO die großen Städte halten wird, während Aufständische und Warlords das Land kontrollieren, und dass dieses Verhältnis dann einigermaßen stabil sein dürfte. Letztlich geht es darum, Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung, dass sich die Probleme irgendwann von selbst lösen. Der Versuch, mittels Wahlen, die dann aber den demokratischen Standards nicht entsprachen, eine starke nationale Regierung in Kabul einzurichten, war ein großer Fehler. Die Folge sind die Legitimitätsprobleme, vor denen wir heute stehen.

Der britische Ökonom Paul Collier warnt, in fragilen Staaten würden Wahlen vor allem polarisieren und deshalb Krisen verschärfen. Er meint, vor allem wirtschaftlicher Erfolg biete die Chance nachhaltiger Veränderung, zumal nach völliger Zerstörung über viele Jahre hinweg hohe Wachstumsraten realistisch sind. Gibt es diese Chance in Afghanistan?
Theoretisch sicherlich, denn das Land verfügt ja über Bodenschätze. Es ist auch durchaus so, dass in vielen Städten ein gewisser Aufschwung zu spüren ist. Andererseits ist es sicherlich noch viel zu früh, um irgendwie von langfristiger Transformation zu sprechen.

Je nach Schätzung belaufen sich die Umsätze der illegalen Drogenökonomie auf 30 bis 50 Prozent der offiziellen Wirtschaftsleistung. Kann es unter diesen Umständen Frieden geben?
Wahrscheinlich ist das zumindest nicht. Bemerkenswerterweise haben Versuche der Repression vor allem zu Kartellbildung geführt. Der Mohnanbau und die Opiumvermarktung sind anfangs quasi natürlich an der Basis gewachsen. Aber je mehr versucht wurde, dies zu unterbinden, umso mehr entstanden gewalttätige Mafiastrukturen, denen nur schwer beizukommen ist. Es ist auch nicht so, dass nur die Aufständischen im Drogengeschäft aktiv wären. Involviert sind – zumindest indirekt – eigentlich alle, die im Land etwas zu sagen haben. Dass der Mohnanbau derzeit zurückgeht, liegt nicht an erfolgreicher Drogenbekämpfung, sondern an ökonomischen Motiven: Die Lager sind nämlich gut gefüllt.

Drei ehemalige Präsidenten von Mexiko, Brasilien und Kolumbien haben in Lateinamerika eine Diskussion darüber angeregt, ob es sinnvoll
wäre, Drogen irgendwie zu legalisieren, damit illegale Kartelle keine Schwarzmarktprofite mehr einstreichen können. Findet diese Debatte auch in Afghanistan statt?

Meiner Beobachtung nach interessiert diese Diskussion nur die Interventen. Die Afghanen neigen eher dazu, die Dinge so hinzunehmen, wie sie nun mal gerade sind, und versuchen für sich und ihre Familien das Beste aus einer verzweifelten Lage zu machen. Die Menschen – inklusive der Eliten – sind nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs misstrauisch. Sie trauen einander nicht, sie trauen den westlichen Verbündeten nicht, sie trauen den Nachbarländern nicht. Unsere Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit klingen in ihren Ohren wie eine weitere utopisch-ideologische Verheißung, wie die Sozialismuspropaganda zu Sowjetzeiten oder die Freiheitsrhetorik von George W. Bush.

Die Fragen stellte Hans Dembowski.

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