Kommentar

Missverstandene Staatlichkeit

Das Beispiel Afghanistan zeigt, dass Globalisierungsprobleme Krisengesellschaften besonders hart treffen. Die internationale Gemeinschaft versucht aber immer noch, herkömmliche Staatlichkeit zu reparieren, ohne globale Herausforderungen zu beachten.

[ Von Hans Dembowski ]

Fragile Staatlichkeit beschäftigt spätestens seit dem 11. September 2001 die internationale Politik. Damals orchestrierten Terroristen aus dem nicht nur geographisch zerklüfteten Afghanistan heraus Anschläge in New York und Washington. Außen- und Verteidigungsminister reicher Länder entdeckten ein Thema, das zuvor nur deren Entwicklungspolitiker umtrieb: Wie können die Lebensverhältnisse in armen Ländern verbessert und stabilisiert werden?

Zu beachten ist dabei, dass herkömmliche Vorstellungen von Staatlichkeit in Zeiten der Globalisierung nicht recht passen. Souveränität in dem Sinne, dass Regierungen die Lebensverhältnisse auf ihrem Territorium eigenmächtig bestimmen, erodiert längst. Wirtschaft, Kommunikationsmedien und andere Funktionssysteme durchdringen nationale Grenzen. Regelungsbedarf herrscht international, Regierungen können nicht mehr im Alleingang entscheiden und implementieren. Zunehmend entstehen Intergouvernementale Regime. Nationale Institutionen können sie nur in gewissem Maße mitgestalten. Ob sie diese Regeln implementieren – und wenn ja, wie und mit welchem Erfolg –, hat für ihr Land aber gewaltige Folgen.

Es ist unmöglich, in tief gespaltenen Krisengesellschaften auf die Schnelle Institutionen zu schaffen, die diesen komplexen Rollen gerecht werden. Ein funktionierender Staat nach westeuropäischem oder nordamerikanischem Vorbild ist nicht über Nacht aufzubauen.

Das Beispiel Afghanistan belegt die besondere Dringlichkeit von Globalisierungsproblemen in Krisenstaaten. Oft wird geklagt, Präsident Hamid Karsai sei eigentlich nur der „Bürgermeister von Kabul“, weil seine Macht nicht über die Stadt hinausreiche. Übersehen wird dabei, dass Globalisierung vor allem die Vernetzung von Metropolen untereinander bedingt und typischerweise mit dem Auseinanderdriften von urbanen und ländlichen Gegenden einhergeht.

Warum soll das in Afghanistan anders sein als in Indien? Oder in Deutschland? Indiens Premier Manmohan Singh hält bekanntlich die tief im Inneren seines Landes agierenden maoistischen Rebellen („Naxaliten“) für eine arg unterschätzte Gefahr. Und selbst in der deutschen Provinz gibt es Gegenden, in denen neonazistische Bedrohungen das staatliche Gewaltmonopol in einem Maße in Frage stellen, das in den multikulturellen Globalisierungszentren Frankfurt oder Hamburg undenkbar ist.

Die internationale Politik missachtet zudem regionale Zusammenhänge. Pakistan und Afghanistan sind zwei Staaten und werden getrennt behandelt. Pashtunen, aus deren Sprachraum die derzeit gefährlichsten Fundamentalisten stammen, leben aber auf beiden Seiten der Grenze. Solche Verbindungen wurden in der Vergangenheit sogar bewusst instrumentalisiert – zunächst von Washington im Engagement gegen die sowjetische Besatzung und dann von Islamabad, das den Bürgerkrieg im Nachbarland steuern wollte.

In jenen Jahrzehnten ergriff die kriminelle Schattenglobalisierung Afghanistan. Waffen wurden mit Opiumerlösen finanziert. Jetzt gilt die Drogenwirtschaft aber als nationalstaatliches Problem, dessen Karsai Herr werden soll – als würde Heroin nicht profitabel in Europa und Amerika vermarktet. Dort gelingt es seit Jahrzehnten nicht, die Schwarzmarktnachfrage zu unterbinden. Ausgerechnet dem Krisenstaat Afghanistan wird ein global ungelöstes Problem angelastet.

Mit Erfolgen indessen schmücken sich die Geber gern selbst. Im „deutschen“ Norden Afghanistans geht es vergleichsweise friedlich zu, also macht Berlin etwas richtig. Oder doch falsch? Aus Washingtons Sicht drückt sich Deutschland nämlich um den Entscheidungskampf im Süden.

Was Karsai dazu sagt, ist zweitrangig. Und wenn er gar von Verhandlungen mit den Taliban spricht, schlägt Empörung in Geberparlamenten hoch. Der Autorität Karsais in seinem Land dient das nicht.

Es gibt keine einfache Antwort darauf, wie in der Globalisierungsära auf lokaler, nationaler und überstaatlicher Ebene funktionierende Institutionen geschaffen werden können. Von Geberregierungen sind keine Blaupausen und Patentlösungen zu erwarten. Sie müssen sich den Fragen aber stellen. Es ist kein gutes Zeichen, dass die internationale Gemeinschaft sechs Jahre nach den Attacken auf World Trade Center und Pentagon trotz offenkundig geringer Erfolge immer noch versucht, ruck, zuck einen vermeintlich normalen Staat zu etablieren.

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