Entwicklung und
Zusammenarbeit

Wahlen

Tansania ist ein gekaperter Staat

Nach den gewalttätigen Unruhen im Anschluss an die Wahlen im Oktober in Tansania werden immer mehr Stimmen laut, die eine neue Verfassung fordern – und zwar eine, die den Einfluss der mächtigen Politik- und Wirtschaftselite einschränkt, die Macht gerechter auf die drei Staatsgewalten verteilt und Bürger*innen das Recht einräumt, verantwortungslose und inkompetente Politiker*innen auf allen Amtsebenen abzuberufen.
Die tansanische Präsidentin Samia Suluhu Hassan inspiziert die Ehrengarde während ihrer Amtseinführung Anfang November. picture alliance/Xinhua News Agency/Tanzania State House/Handout via Xinhua
Die tansanische Präsidentin Samia Suluhu Hassan inspiziert die Ehrengarde während ihrer Amtseinführung Anfang November.

Drei Jahrzehnte nach der Wiederherstellung der Mehrparteiendemokratie in Tansania – einem System, das zuvor nur kurzzeitig vier Jahre lang nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1961 bestand – rutscht das Land nun zunehmend wieder in den Autoritarismus ab. Dies zeigt sich deutlich am Aufstieg einer mächtigen Klasse wohlhabender Personen, der „Business-Politiker*innen“, die Wahlprozesse manipulieren und hinter den Kulissen Kontrolle ausüben, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen.

Ein wesentlicher Teil des Problems liegt in der Verfassung des Landes: Sie sorgt weder für eine klare Machtverteilung zwischen den drei Staatsgewalten Exekutive, Legislative und Judikative, noch enthält sie Vorschriften, die es Bürger*innen erlauben würden, gewählte Amtsträger*innen zur Rechenschaft zu ziehen.

Fachleute betonen, dass eine Verfassung daran gemessen werden sollte, wie sie mit Macht umgeht – wo sie angesiedelt ist, wem sie gewährt wird und wie sie ausgeübt, begrenzt und auf die verschiedenen Organe des Staates verteilt wird. Als das grundlegende Gesetz, aus dem sowohl Gesetzgebungs- als auch Verwaltungsakte ihre Autorität ableiten, sollte eine ideale Verfassung die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft klar definieren.

Die Gewaltenteilung mit ihrem System der gegenseitigen Kontrolle soll die Macht zwischen jenen verteilen, die Gesetze erlassen (Legislative), jenen, die sie durchsetzen (Exekutive), und jenen, die sie auslegen (Judikative). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass niemand über dem Gesetz steht. Doch obwohl die Verfassung Tansanias die Befugnisse der drei Gewalten formal gesehen voneinander trennt, überschreitet die Exekutive in der Praxis oft ihre Grenzen und greift in die Funktionen der anderen Gewalten ein.  

Dies liegt unter anderem an den übermäßigen Machtbefugnissen, die die seit 1977 gültige Verfassung des Landes dem Präsidialamt einräumt. In der Verfassung hat der oder die Präsident*in eine außergewöhnlich dominante Stellung innerhalb der staatlichen Strukturen inne. Er oder sie ist gleichzeitig Staatsoberhaupt, Regierungschef*in und Oberbefehlshaber*in der Streitkräfte. Er oder sie ernennt auch Minister*innen, hohe Beamt*innen und Richter*innen sowohl für das Oberste Gericht als auch für das Berufungsgericht. Darüber hinaus gewährt die Verfassung dem Präsidenten die Befugnis, den Ausnahmezustand zu erklären. Er oder sie hat auch die Befugnis, Personen ohne Gerichtsverfahren gemäß dem „Gesetz zur Präventivhaft“ in Gewahrsam zu nehmen.

Unklare Rollen  

Die Verfassung legt außerdem fest, dass Gerichte Entscheidungen der Wahlkommission in Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben nicht überprüfen dürfen. Weiter verschärft wird die Situation durch den wachsenden Einfluss wohlhabender politischer und wirtschaftlicher Eliten, die die Exekutive effektiv unter ihre Kontrolle gebracht haben. Vorschriften, Regelungen und sogar Gerichtsentscheidungen werden damit häufig ungestraft ignoriert.  

Auch dass Richter*innen in Verwaltungsinstitutionen, einschließlich der Wahlkommission – bei Wahlen nach wie vor ein heikles Thema – sitzen, ist in Tansania nichts Neues. Ähnliches gilt für Kabinettsminister*innen: Auch hier ist es nicht ungewöhnlich, dass sie als Mitglieder der Exekutive ihre Parlamentssitze in verschiedenen Wahlkreisen behalten, obwohl so ihre Kontrollfunktion ausgehebelt wird.  

Und auch in der Exekutive waren Richter*innen zeitweise vertreten. So wurde beispielsweise Julie Manning, Richterin am Obersten Gerichtshof, zur Justizministerin ernannt, und Damian Lubuva, Richter am Berufungsgericht, war ebenfalls Justizminister. Beide wurden später zu unterschiedlichen Zeitpunkten dazu berufen, Ämter innerhalb der Wahlbehörde zu bekleiden. Rollenüberschneidungen wie diese werfen ernsthafte Bedenken hinsichtlich der institutionellen Unabhängigkeit sowie der Integrität der Regierung und ihrer Verwaltung auf.  

Aus diesem Grund haben Rechtsexpert*innen und Oppositionsführer*innen offen eine neue Verfassung gefordert – eine, die die Gewaltenteilung strenger einhält und ein System der gegenseitigen Kontrolle schafft, das auch tatsächlich wirkt. Boniface Mwabukusi, Präsident der Tanganyika Law Society (TLS), brachte es gegenüber einer lokalen Zeitung auf den Punkt: „Wir wollen eine Verfassung, die die Parlamentarier*innen ausschließlich auf ihre parlamentarischen Aufgaben beschränkt.“  

Bürger*innen sollen darin auch die Möglichkeit haben, sowohl Parlamentsmitglieder als auch Kommunalpolitiker*innen, die ihre Wähler*innen nicht wirksam vertreten, durch ein Misstrauensvotum abzuberufen. Die mangelnde Bürgernähe der Parlamentarier*innen ist ein wesentlicher Faktor für die Wahlverdrossenheit in Tansania. Medienberichten zufolge gibt es eine beträchtliche Anzahl von Parlamentsabgeordneten, die selten Fragen stellen oder sich an Debatten beteiligen.

„Business-Politiker*innen“  

Die wohlhabenden Politik- und Wirtschaftseliten sind ebenfalls ein großes Problem. Sie haben Wirtschaft und Politik effektiv miteinander verschmolzen, indem sie die Regierungspartei infiltriert und ihre bevorzugten Kandidat*innen für Ämter in der Präsidentschaft, im Parlament und in lokalen Regierungen finanziert haben. Dieser finanzielle Einfluss sorgt dafür, dass die Regierung bei Korruption wegschaut und bereitwillig die Regeln biegt, um die Interessen der Mächtigen zu schützen.

Ein Beispiel dafür ist die gewaltsame Vertreibung Tausender Indigener Massai aus dem Ngorongoro-Schutzgebiet, um Platz für Tourismus und ausländische Investitionen zu schaffen. Die Massai haben dort seit Jahrhunderten gelebt. Hier zeigt sich, was passiert, wenn Exekutive, Legislative und Judikative nicht mehr unabhängig agieren und von Wirtschaftsinteressen dominiert werden. Es überrascht daher auch nicht, dass Kandidat*innen der Regierungspartei von der Wahlliste gestrichen wurden, die sich gegen die Vertreibung ausgesprochen haben. Dazu zählt auch Christopher Ole Sendeka, der mehr als zwei Jahrzehnte im Parlament saß und selbst Massai ist.  

Die Maasai sehen ihr Land und ihre Kultur durch die Maßnahmen der tansanischen Regierung gegen sie bedroht.

Die Kommerzialisierung der Politik durch die wohlhabende Wirtschaftselite hat den demokratischen Prozess in Tansania ausgehöhlt. Wahlen werden nicht mehr danach entschieden, welche Kandidat*innen sich verdient gemacht haben und auf die Anliegen, Hoffnungen und Erwartungen der Bürger*innen eingehen. Es zählt nur noch das Geld.  

Dies führt zu einem Gerangel um Parlamentssitze, an dem sich x-beliebige Personen beteiligen – weniger aus dem Wunsch heraus, der Allgemeinheit zu dienen, als vielmehr aus dem Bestreben, durch Beziehungen Zugang zu staatlichen Ressourcen zu erhalten. Das erklärt auch, weshalb politische Korruption – die in Tansania weithin als Ursache für alle anderen Formen der Korruption angesehen wird – nach wie vor tief verwurzelt ist.  

Leider werden auch die Oppositionsparteien zunehmend von Gier getrieben. Und diejenigen, die sich ernsthaft engagieren wollen, haben ohne finanzielle Unabhängigkeit oft nur sehr wenig Handlungsspielraum.  

Das bedeutet, dass die Elite nahezu uneingeschränkt regiert, da die Schwäche der Verfassung – und die daraus resultierende Verwischung der Grenzen zwischen Exekutive, Parlament und Judikative – Rechenschaftspflicht und gute Regierungsführung untergraben hat. Die Frage ist nun, wohin sich Tansania entwickelt, da die staatlichen Strukturen immer schwächer werden und das Vertrauen der Bevölkerung erschüttert ist. Kann das Land auf einem Kontinent, der von Staatsstreichen und Gegenputschen heimgesucht wird, standhalten?

Der Einfluss des Geldes in der Politik fordert einen hohen Preis für die Entwicklung Tansanias und trübt den Ruf des Landes, das einst als eines der friedlichsten und stabilsten Afrikas galt. Angesichts der Tatsache, dass die geldgetriebene Politik tief verwurzelt ist, läuft Tansania Gefahr, in einen politischen Aufruhr zu geraten, wie es ihn seit der Unabhängigkeit im Jahr 1961 noch nicht gegeben hat.

Lawrence Kilimwiko ist Journalist in Daressalam, Tansania. 
lkilimwiko@yahoo.com 

Neueste Artikel

Beliebte Artikel