Regenbogen-Nation

Neues Narrativ ist nötig

Vor über einem Vierteljahrhundert endete die Herrschaft der weißen Minderheit in Südafrika, aber Hautfarbe spielt in der Politik immer noch eine wichtige Rolle. Das Land braucht einen neuen Diskurs, der Verbindendes, nicht Trennendes betont.
Achterbahn (Südafrikas Pro-Kopf-BIP) IMF Achterbahn (Südafrikas Pro-Kopf-BIP)

Der African National Congress (ANC) regiert Südafrika seit der ersten demokratischen Wahl 1994. Damals siegte die Partei triumphal und beendete die schändliche Rassentrennung der Apartheid (siehe Kasten). Als das Kabinett des Freiheitskämpfers Nelson Mandela damals sein Amt antrat, schienen Ministerien geradezu menschenleer und viele Akten waren verschwunden. Zahlreiche Beamte schieden aus dem Staatsdienst aus, während andere sich ängstlich bedeckt hielten und Rache fürchteten. Belastende Akten hatten sie jedenfalls vernichtet.

Seither hat sich einiges getan. Die Regierung ist merklich an der Einbindung aller Bevölkerungsgruppen interessiert. Niemand zweifelt das Prinzip schwarzer Mehrheitsherrschaft an. Im Staatsdienst arbeiten vor allem Schwarze. Durch Rassismus entstandenes Misstrauen lebt aber fort, und die Behörden arbeiten weniger effizient als sie sollten. Identitätspolitik behindert nun in neuer Form Fortschritt und Wohlstandsmehrung.

Anfangs schienen die Dinge vielversprechend. Unter Mandela lehnte der ANC nach 1994 rassistisches Denken komplett ab. Erzbischof Desmond Tutu sprach von einer „Regenbogen-Nation“ und schuf so eine Grundlage für echte Versöhnungsbemühungen auf allen Seiten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission dokumentierte unmissverständlich die Brutalität der Apartheid. Das trug zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei. Südafrika schien sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen.

Die Volkswirtschaft erlebte zwei Jahrzehnte lang rasantes Wachstum. Das spiegelte den Optimismus teils wider. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf stieg von 9100 Dollar 1993 auf 12 500 Dollar 2014 (siehe Grafik). Die Wirtschaftspolitik folgte von 1996 mit großem Erfolg dem Motto „Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung“. Von 1999 an hielt Mandelas Nachfolger Thabo Mbeki daran fest. Die Regierung förderte Wachstum und machte Sozialpolitik zugunsten der Armen.

Das funktionierte nicht auf Dauer. Die Wirtschaftsleistung sank während der korrupten Präsidentschaft Jacob Zumas, eines Traditionalisten, der 2009 Staatschef wurde und 2014 in Wahlen bestätigt wurde. Es waren verlorene Jahre. 2019 betrug das Pro-Kopf-Einkommen nur noch 12 200 Dollar und – dank Covid-19 – 2020 sogar nur noch 11 100 Dollar. Das Schlagwort vom „verstrickten Staat“ (State capture) wird damit verbunden. Es steht für die Verquickung von Privatinteressen mit dem Regierungshandeln. Bis heute untersucht eine Justizkommission Korruptionsfälle.

Zuma löste die großen Probleme des Landes nicht, bleibt aber bei einer ANC-Strömung und den Zulu beliebt. Seine Inhaftierung wegen mangelnder Kooperation löste im Juli schnell eskalierende Gewaltproteste aus. Die Krawalle zeugten von dem Schaden, den Zuma angerichtet hat – sowie der Wut vieler Menschen.

Leider erstarkte in den Jahren des Niedergangs die Identitätspolitik. Die Partei Economic Freedom Fighters (EFF – ökonomische Freiheitskämpfer) gewinnt mit aggressiver anti-weißer und anti-indischer Propaganda viel Zuspruch. Ihr charismatischer Vorsitzender Julius Malema wirft dem ANC vor, dem „weißen Monopolkapital“ zu dienen. Weiße zögen hinter der ANC-Fassade immer noch die Strippen. Die EEF sind inzwischen die drittstärkste Partei im Parlament. Ihr umgekehrten Revanche-Rassismus vorzuwerfen, ist nicht übertrieben.


Umverteilung

Viele Menschen denken folglich, die weiße Minderheit führe in Südafrika heimlich immer noch Regie. So sehen das auch manche ANC-Mitglieder. Die Fakten sprechen allerdings dagegen. Das Steuersystem ist progressiv. Der Staat unterstützt arme Schwarze mit erheblichen Summen. Etwa 19 Millionen von 60 Millionen Südafrikanern bekommen Sozialleistungen, und das Staatshandeln ist konsequent auf „black empowerment“ (Befähigung der Schwarzen) ausgerichtet.

So gehören denn auch die Bildungsausgaben Südafrikas mit rund 6,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu den höchsten der Welt. Wasser-, Strom- und Sanitärinfrastruktur werden systematisch ausgebaut und schwarze Unternehmer großzügig gefördert. Privatfirmen werden ermutigt, im Interesse der schwarzen Mehrheit zu handeln – und Gesetze erzeugen entsprechenden Druck. Vielfältige Belege weit verbreiteter Korruption tragen aber dazu bei, dass viele annehmen, der ANC beute arme Schwarze aus.

In mancher Hinsicht – besonders, was Grundbesitz angeht – bleibt der Fortschritt zugunsten schwarzer Bürger sehr langsam. Ursächlich sind aber nicht irgendwelche Verschwörungen. Vielmehr ist die Verwaltung ineffizient, verschwenderisch und korrupt. ANC-Mitglieder auf Führungspositionen zu berufen, sollte schwarze Interessen stärken, aber das Ergebnis war leider auf der Ebene von Kommunen und Provinzen allzu oft behördlicher Stillstand. Manche staatlichen Dienstleistungen werden gar nicht erbracht.

Dafür gibt es aber auch noch andere Gründe. Vor allem schränkt ungenügendes Wirtschaftswachstum unsere Möglichkeiten ein. Südafrika braucht beschäftigungsintensives, hohes und anhaltendes Wachstum, um über die Jahrzehnte neue Chancen für alle zu schaffen. So können Ungleichheit und Verelendung überwunden werden. Damit die Aussichten der schwarzen Mehrheit besser werden, muss zusätzlicher Wohlstand entstehen. Mit dem Versuch, nur bestehenden Wohlstand umzuverteilen, führte Zuma das Land in eine Sackgasse.

2018 wurde Cyril Ramaphosa Zumas Nachfolger. Er spricht anders und verhält sich anders. Er hat den Niedergang gestoppt, es aber auch wegen Verschwendung, mangelnder Rechenschaftspflicht und genereller Konfusion im Staatsdienst bislang nicht vermocht, einen neuen Aufschwung auszulösen. Die Corona-Pandemie hat das Land zusätzlich hart getroffen. Ramaphosa spielte als ANC- und Gewerkschaftsfunktionär im Kampf gegen die Apartheid eine wichtige Rolle und ist später im Privatsektor zu einem der reichsten Bürger Südafrikas geworden.

Um voranzukommen, braucht Südafrika ein neues Narrativ. Es muss an die Vision der Regenbogen-Nation anknüpfen und im Blick auf Gegenwart und Zukunft Verbindendes und nicht Trennendes betonen. Hautfarbe und Wohlstand korrelieren in Südafrika, aber die Aufmerksamkeit muss darauf gerichtet werden, allen Chancen zu eröffnen. Rassistisches Denken hat zu den Krisen der Vergangenheit beigetragen. Wir dürfen darin nicht verharren.

Das heißt aber auch, dass die Aufarbeitung unserer Geschichte wichtig bleibt. Schmerzhafte Erinnerungen können auf hilfreiche Weise lehrreich sein. Ein neuer Gesellschaftsvertrag kann nur gelingen, wenn alle Parteien sich der Frage stellen, wie die Apartheid zustande kam, was sie bedeutete und wie sie endete. Die Lehre daraus ist, dass Hautfarbe keine Sonderrechte begründen darf.


Jakkie Cilliers ist der Gründer und ehemalige Exekutivdirektor des gemeinnützigen Institute for Security Studies mit Büros in Südafrika, Senegal, Äthiopien und Kenia.
jcilliers@issafrica.org

 

Aktualisierung 16. 7. 2021, 12:30 MESZ: Der Absatz über Zumas Verhaftung und die anschließenden Krawalle wurde heute ergänzt.

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