Umbruch in der arabischen Welt

Urlaubsparadies und Polizeistaat

Europa muss sich ohne Wenn und Aber hinter die Kräfte in Tunesien stellen, die einen echten Neuanfang wollen. Die EU hat viel zu lang die Augen vor den Verbrechen des Ben-Ali-Regimes verschlossen.

Von Martina Sabra

Dass die Wut der Tunesier zum Jahreswechsel explodierte, hatte nicht nur soziale Gründe. Sicherlich sind hunderttausende junger Tunesier zornig, weil sie keine Jobs haben oder so schlecht bezahlt werden, dass sie keine Familie gründen können. Doch es ging von Anfang an um mehr: Die meisten Tunesier sind es leid, von einer mafiösen Clique drangsaliert und entmündigt zu werden. Hinter den Kulissen des vermeintlichen Ferienparadieses Tunesien verbarg sich ein Polizeistaat, dessen Unterdrückungsmethoden in vielem denen der Stasi ähnelten.

Der Sicherheitsapparat des Diktators Zine el-Abdine Ben Ali und seiner Staatspartei RCD (80 Prozent der Sitze im Parlament) verhaftete und folterte willkürlich. Zu den weniger subtilen Methoden der Unterdrückung gehörten zudem die totale Überwachung von Post und Telekommunikation sowie das Blockieren kritischer Websites.

Darüber hinaus gab es subtilere Mittel der Einschüchterung, die das Vertrauen der Bürger auch untereinander zerstörten. Die Spitzel des Regimes waren überall: am Arbeitsplatz, in der Schule, im Café, vielleicht sogar in den eigenen vier Wänden. Als ich bei einer befreundeten Frauenrechtlerin zu einer Party eingeladen war, standen plötzlich Agenten vor der Tür und machten sich in der Diele breit. Sie demonstrierten ihre Macht, und die konsternierten Gastgeber mussten ruhig bleiben und zusehen. Kellner in Cafés wurden angewiesen, Regimegegner nicht zu bedienen oder sie sogar zu beschimpfen. Selbst Kinder wurden dazu gebracht, Schulkameraden, deren Eltern sich kritisch geäußert hatten, zu mobben.

Das Regime gab sich konziliant gegenüber Israel, nutzte aber antijüdische Ressentiments, um innenpolitische Gegner zu verleumden. Verlogen war auch seine Haltung zur Religion. „Es ist ein schlechter Witz“, schrieb mir eine Freundin vor Jahren, „nach außen verkauft Ben Ali sich als Vorkämpfer gegen den Islamismus, aber gleichzeitig gründet er das offizielle islamische Radio Zitouna und baut mit viel Pomp eine Moschee.“

Systemkonforme Opposition war praktisch unmöglich. Tunesiens internetfreudige, gut ausgebildete Jugend erwartete ohnehin schon lange nichts mehr vom RCD-Apparat. Sie brachte ihren Frust auf ihre Weise zum Ausdruck. Rapper, die sich deutlich vom Regime distanzierten wie der populäre El General, wurden zwar immer mal wieder festgenommen, aber meist auch schnell wieder freigelassen – vielleicht aus Ignoranz, vielleicht aber aus Angst, dass genau die Revolte ausbrechen könnte, die jetzt Ben Ali verjagt hat.

Dass sich das verhasste Regime so lange halten konnte, hatte auch außenpolitische Gründe. Wegen seiner harten Hand gegenüber der islamischen Opposition fand Ben Ali Unterstützung im Westen. Eine Mischung aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen einerseits und blanker Ignoranz andererseits prägte die Politik der EU. Manche Politiker glaubten, Araber und Muslime seien ohnehin demokratieunfähig. Andere hielten Tunesien schon deshalb für liberal, weil es an Urlaubsorten bayerische Bierkneipen gibt und die Mehrheit der Frauen keine Schleier trägt.

Die EU hat viel wiedergutzumachen. Die erste Chance dazu hat sie bereits verspielt. Das Europäische Parlament lehnte es noch eine Woche nach der Flucht Ben Alis ab, die Forderungen der Revolutionäre ohne Wenn und Aber zu unterstützen. Tunesien hat sicherlich einen langen Weg in Richtung Demokratie vor sich. Die vergleichsweise hochgebildete und urbane Bevölkerung hat aber das Potential, diese Herausforderung zu meistern. Die EU – allen voran Frankreich und Deutschland – müssen sofort alte Fehler korrigieren und sich bedingungslos hinter diejenigen stellen, die einen echten Neuanfang wollen.

Viele Tunesier sind vom Westen tief enttäuscht. Sie empfanden es auch als Ohrfeige, dass die Rating-Agentur Moody’s ihr Land wegen der Revolution herunterstufte. Da verjagen sie die Clique, von der sie jahrelang ausgeraubt wurden, und begeben sich auf den Weg zur Demokratie – und der Kapitalmarkt bestraft sie mit höheren Zinsen für die Schuldenlast, die der Diktator hinterlassen hat.

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