Editorial

Was Entwicklung wirklich bremst

Chronische Krankheit und Behinderung erschweren den persönlich Betroffenen das Leben, egal wo auf der Welt. In Ländern, in denen aber der Alltag schon für voll einsatzfähige, gesunde Menschen mühevoll ist, trifft eine Behinderung die Menschen doppelt hart und belastet bisweilen ganze Familien bis an die Grenze des Erträglichen. Die Schamgefühle und die soziale Ausgrenzung, mit denen sich Eltern eines „nicht intakten“ Kindes bisweilen konfrontiert sehen, sind nur ein Teil des Problems. Oft haben die Familien in Entwicklungsländern auch nicht die Mittel, diese Kinder zur Schule zu schicken, geschweige denn, sie besonders zu fördern.


[ Eleonore von Bothmer ]

Besonders hart betroffen sind Frauen, da sie es auch unter „normalen“ Umständen schwerer haben. Eine behinderte Frau hat in einem Entwick­lungsland noch weniger Chancen als sonst und ist mit noch mehr Problemen konfrontiert, als sie es ohnehin wäre. Sie ist multiplen Diskriminierungen – die Soziologie spricht von Intersektionalität – ausgesetzt: weil sie weiblich ist, behindert und meist arm. Grundlegende Menschenrechte und Bedürfnisse werden ihnen abgesprochen, und zugleich werden sie öfter Opfer sexueller und anderer Übergriffe.

Menschen mit Behinderungen nicht in das gesellschaftliche Leben einzubeziehen und daran voll teilhaben zu lassen, hat aber auch Konsequenzen für die gesamte Entwicklung eines Landes, die weit über das persönliche Leid hinausgehen. Die Weltgesundheitsorganisation geht von weltweit rund 650 Millionen Menschen mit Behinderungen aus, von denen 80 Prozent in Entwicklungsländern leben. Wenn sie ausgegrenzt werden, behindert das die Entwicklung der ganzen Gesellschaft.

David Whiting rechnet in diesem Heft (S. 66) am Beispiel Diabetes die volkswirtschaftlichen Kosten einer chronischen Erkrankung und ihrer Folgen vor. Sie entstehen nicht nur durch den vorzeitigen Tod von Menschen im arbeitsfähigen Alter, sondern auch durch Behandlungskosten und Arbeitsunfähigkeit. Eine angemessene Prävention und frühzeitige Behandlung ist, gerade in ländlichen Gebieten, oft gar nicht möglich. Insulin etwa ist selbst in Kliniken afrikanischer Großstädte nicht immer zu bekommen – und wenn doch, blei­bt es für viele unerschwinglich teuer. Für andere Behinderungen (auch see­li­sche) gilt Vergleichbares.

Familien mit kranken oder behinderten Mitgliedern gehören oft zu den ärmsten. Immerhin fällt nicht nur eine Arbeitskraft aus, die ernährt werden muss. Zudem braucht diese Person oftmals auch besondere Zuwendung und Pflege. Viel davon wäre nicht nötig, wenn Menschen mit Behinderungen Bildung ermöglicht und Zugang zu Arbeit geschaffen würde. Das geht, wird aber – nicht nur in Entwicklungsländern – allzu oft nicht getan.

Etlichen Behinderungen und chronischen Erkrankungen könnte vorgebeugt, ihre Ursachen könnten unterbunden werden. Dass in der Sahelzone beispielsweise immer mehr Menschen erblinden, hängt unter anderem mit Mangelernährung zusammen. Andererseits wäre oft schon viel gewonnen, wenn Therapie und Rehabilitation rechtzeitig begännen.

Behinderung wird zu recht als Menschenrechtsthema gesehen – auch in den In­dustrieländern. In Deutschland gilt seit Januar die UN-Konvention zur Achtung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie umzusetzen hat etwas mit Menschenwürde zu tun, für alle Beteiligten.

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