Interview

„Muslimbrüder vertreten den Status quo”

In Ägypten begannen Ende November mehrstufige Parlamentswah­len. Die Abstimmung fand inmitten gewalttätiger Proteste gegen den Militärrat statt, der das Land seit Hosni Mubaraks Rücktritt als Präsident im Februar regiert. Die Muslimbrüder und Salafis – religiös strengere Fundamentalisten – wurden die stärksten Kräfte in der ersten Runde. Hans Dembowski besprach die Lage mit Yasser Alwan, der die Protestbewegung auf dem Tahrirplatz von Anfang an beobachtet. Bald nach dem Interview flammte die Gewalt wieder auf.

Interview mit Yasser Alwan

Was geschieht heute, am 14. Dezember, auf dem Tahrirplatz?
Es sind noch ein paar Menschen auf dem Platz, aber der Protest läuft aus. Ehrlich gesagt sehe ich momentan keinen Grund zu protestieren. Die meisten Leute auf dem Platz wirken auch nicht wie Demonstranten. Offensichtlich sind sie Informanten der Sicherheitskräfte oder gehören zum Geheimdienst. Sie sollen die revolu­tionäre Bewegung diskreditieren.

Aber Ende November und Anfang Dezember war der Protest echt?
Absolut. Mindestens so ernst wie vor Mubaraks Rücktritt. Man konnte auf dem Tahrirplatz gefahrlos demonstrieren, aber es gab eine Ecke – eine kleine Straße, die zum Innenministerium führt –, wo die Polizei Tränengas, Pellets und sogar scharfe Munition einsetzte, um die Leute auseinanderzutreiben. Es war gefährlich, sich dorthin zu begeben, trotzdem taten das junge Männer ständig. Andere organisierten die nötige Infrastruktur, Essen und medizinische Versorgung. Die Furchtlosigkeit angesichts furchtbarer Gewalt muss dem Militärrat und den Sicherheitskräften Angst machen. Etwa 50 Menschen wurden getötet und viele weitere verletzt. Die Leute lassen sich einfach nicht mehr gängeln. Auch in Alexandria, Suez und an anderen Orten gab es Demonstrationen.

Wie kam es zu dieser neuen Protestwelle?
Der Protest eskalierte, nachdem die Polizei eine kleine Gruppe von vielleicht 150 Demonstranten mit roher Gewalt vom Tahrirplatz entfernte. Das geschah, nachdem die Muslimbrüder und Salafis dort am 18. November eine riesige Kundgebung dominiert hatten. Die Betroffenen wollten über Nacht bleiben, sie waren Angehörige der Gruppe der „Familien der Märtyrer“ oder Leute, die beim Aufstand im Februar verletzt wurden. Sie alle haben versprochene Entschädigungen noch nicht bekommen. Ein weiteres Motiv war ein Dokument, das belegte, dass der Militärrat das Verteidigungsbudget auf Dauer geheim halten will und das Privileg beansprucht, den Verteidigungsminister zu ernennen. Der Militärrat will an der Macht bleiben, egal wer gewählt wird.

Bewirkt das neue Kabinett eine Veränderung?
Nein, es sind im Grunde alles Leute aus Mubaraks Clique. Eines ist aber anders geworden: Die Proteste haben das alte Kabinett zum Rücktritt gezwungen. Zuvor kursierte ein Witz, die Regierung sei dem Militärrat gegenüber so ohnmächtig, dass sie nicht einmal zurücktreten könne. Viele Minister hatten das tun wollen, durften aber nicht. Die Militärführung begreift jetzt, dass sie dem Volk nicht alles aufzwingen kann. Sie ist im Moment vermutlich erleichtert, aber sie muss sich darauf einstellen, dass sie nicht immer an der Macht klammern kann und das Militär auf Dauer kein Staat im Staat bleiben wird.

Wer hat den Protest unterstützt?
Vor allem viele junge Menschen mit den verschiedensten Hintergründen. Wichtiger ist aber, wer das nicht getan hat: Die Muslimbrüder haben als Organisation ihren Anhängern nahegelegt, nicht teilzunehmen. Die Salafi-Organisationen taten das auch. Individuell waren dennoch einige Muslimbrüder und Salafis mit dabei. Ihre Führungsleute waren dagegen, weil sie nicht wollten, dass die Wahlen verschoben werden. Sie haben den Konflikt mit der Militärspitze gemieden, weil sie wussten, dass die Wahlen gut für sie verlaufen würden. Und so kam es auch.

In der ersten Runde bekam die Partei der Muslimbrüder etwa 40 Prozent der Stimmen und die Salafi-Partei etwa 25 Prozent. Macht das liberalen und linken Wählern Angst?
Ja, zumal nicht klar ist, was die Salafis wollen. Es gibt sie schon lange, aber sie waren immer unpolitisch. Kürzlich habe ich mich mit einem ihrer Anführer getroffen. Es stellte sich heraus, dass er hoffte, ich würde ihm zeigen, wie er Menschen erreichen kann. Er wollte Hilfe bei der Entwicklung einer politisch wirkungsvollen Rhetorik. Ich weiß aber immer noch nicht, was sein Ziel ist – außer potentielle Wähler nicht zu vergraulen. Religiös sind sie sehr dogmatisch, ähnlich wie die Wahhabiten in Saudi-Arabien. Sie bekommen mit Sicherheit Geld von dort. Aber ihre politische Agenda ist unklar.

Werden sich Muslimbrüder und Salafis zusammentun?
Ich glaube eher, dass sie aneinandergeraten. Die Muslimbrüder gibt es seit 80 Jahren, sie sind politisch geschickt und werden die Salafis austricksen.

Gemeinsam bekommen die islamistischen Kräfte wahrscheinlich eine Mehrheit im Parlament – und entsprechend in der verfassunggebenden Versammlung. Es sieht so aus, als würden sie die ägyptische Politik auf lange Zeit prägen.
Das glaube ich nicht. Wer jetzt im Parlament stark ist, wird bis zu den nächsten Wahlen politisch verbrannt sein. Diejenigen, die die neue Regierung bilden, werden nicht liefern können, was die Menschen erwarten und brauchen. Es gibt riesige Hoffnungen und zugleich tiefe Verzweiflung. Die Inflation ist hart. Es wird immer schwieriger, über die Runden zu kommen. Wir stecken in einer Weltwirtschaftskrise. Die gewählte Legislative wird nicht viel bezüglich der Brot-und-Butter-Themen tun können. Sie wird nicht einmal Gehälter erhöhen oder einen Mindestlohn einführen können – es geht um ganz grundlegende Dinge. Bisher stellen Politiker den ökonomischen Status quo nicht in Frage. Die Muslimbrüder tun so, als könnten sie die Lage der Menschen verbessern. Aber eigentlich vertreten sie den Status quo. Das tun auch andere, die im Parlament einflussreich werden dürften. Sie werden mit dem Militärrat Plänkeleien über politische Fragen haben – der Konflikt über Militärprivilegien kommt zweifellos. Aber für die Lebensqualität der Menschen ist das nicht so wichtig.

Was ist denn wirklich wichtig?
Ein heißes Thema sind die dubiosen Privatisierungen der Mubarak-Ära. Tatsächlich haben Gerichte einige Unternehmen schon wieder „renationalisiert“, aber die Regierung weigert sich, das umzusetzen. Was die Menschen zudem besorgt, sind Gewaltverbrechen. Die Sicherheitslage ist schlecht – vermutlich, weil die Polizei absichtlich ihren Job nicht tut. Es kommt dem Militärrat entgegen, wenn die Leute in Angst leben und er die Schuld auf Proteste und Streiks schieben kann.

Wie äußert sich der ökonomische Frust?
Im August und September gab es eine beispiellose Streikwelle. In Kairo hat die Transportgewerkschaft den Verkehr eine Weile lahmgelegt. Ein Topmanager wurde entlassen, und die Arbeiter bekamen Geld aus längst fälligen Gewinnbeteiligungen. Ägyptische Arbeiter sollen daran Anteil haben, wenn es einem Unternehmen gut geht, aber früher wurde nie Geld ausbezahlt. Solche Streiks bringen kleine Erfolge und ermutigen andere, ebenfalls zu streiken. Es kann jederzeit zu neuen Protesten und Streiks kommen.

Warum haben Liberale und Linke in den Wahlen so schlecht abgeschnitten?
Sie waren jahrelang nicht präsent. Ihre politischen Organisationen sind meist noch kein halbes Jahr alt. Sie haben offensichtlich keinen großen Halt in der ägyptischen Öffentlichkeit, und ihr Einfluss beschränkt sich auf die Städte. Langfristig könnte sich die Demokratische Arbeiterpartei dank ihrer engen Kontakte zu den Gewerkschaften als anders erweisen. Sie ist allerdings noch keine offizielle Partei und spielt bei den Wahlen keine Rolle.

Waren die Wahlen denn fair?
Wahlbeobachter – unter anderem vom Carter Center des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter – berichten von vielen kleinen Regelverstößen, aber verglichen mit dem, was früher in Ägypten als Wahlen bezeichnet wurde, waren sie wirklich fair. Zum Beispiel gab es keine Meldungen über Todesfälle.

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