Synkretismus
Voodoo ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf den Kosmos
Benoit Sogan ist ein 42-jähriger traditioneller Voodoo-Heiler. Er lebt am Stadtrand von Porto-Novo, der Hauptstadt Benins. Sein kleines Haus, bestehend aus Zementblöcken und roter Erde, liegt nicht weit von einem Friedhof, auf dem sowohl Muslim*innen als auch Christ*innen ihre Toten begraben. In der Regenzeit lässt sich Benoits Grundstück manchmal kaum betreten, da die unebene Straße zu seinem Haus voller Schlaglöcher und stehendem, rotem Wasser ist.
Dennoch hat er viele Patient*innen. Benoit kümmert sich gut um den Voodoo-Schrein in dem kleinen, feuchten Raum, in dem er mit Geistern kommuniziert. Vor kurzem, sagt er, kam ein Mann zu ihm und erzählte, dass er zweimal hintereinander von spirituellen Kräften im Schlaf angegriffen wurde, jeweils gegen 1:30 Uhr nachts, direkt in der Mitte seines Kopfes. Einige Tage später befürchtete er, seiner Männlichkeit beraubt worden zu sein; er fühlte sich sehr schwach, als ob unkontrollierbare dunkle Kräfte seine Lebensenergie aussaugten.
Eine Erklärung erhält Benoit vom Ifa-Orakel: Hinter dem Poltergeist, der den Mann im Schlaf angegriffen hat, stecke ein sehr gefährlicher Voodoo-Geist. Benoit bat den Mann daraufhin, Maismehl, rotes Palmöl, den lokalen Alkohol Sodabi und Kolanüsse zu besorgen. Und etwas Geld natürlich.
Ein Huhn wurde geopfert, sein Blut in den Voodoo-Schrein gegossen und das Fleisch in einer Kalebasse im Dunkeln an eine Kreuzung gestellt. Diese Opfergabe sollte die Voodoo-Gottheit besänftigen, die den Poltergeist geschickt hatte. Dann erzählt Benoit, dass er dem Mann auch verschiedene Gebräue zum Trinken und schwarze Seife gab, die er nach dem Duschen auf seine Genitalien auftragen sollte. Am Ende markierte Benoit den Körper des Mannes mit einem magischen schwarzen Pulver, das ihn vor weiteren Angriffen schützen sollte, wenn andere böse Voodoo-Geister versuchen, ihn anzugreifen. „Ich habe mein ‚Return to Sender‘-Rezept verwendet“, sagt er stolz.
Eine jahrhundertealte Religion
Geschichten wie diese sind in Benin nicht ungewöhnlich. Voodoo gilt nicht nur hier als jahrhundertealte Religion. Ursprünglich diente Voodoo spirituellem Schutz, der Anrufung des Ahnensegens und stärkte ethnische Identitäten. Bis heute blüht die Religion vor allem in Afrika und in der Karibik. Das Yoruba-Volk in Nigeria etwa glaubt, dass das Voodoo-Pantheon, dort Orisa genannt, mehr als 400 Gottheiten umfasst.
Leider sind einige skrupellose Voodoo-Priester*innen auf schnelles Geld aus und nutzen Voodoo, um Menschen zu schaden. Sie setzen sich über die Regeln ihrer Religion hinweg – und genau dann zeigt sich das Böse. „Voodoo ist wie ein Messer“, erklärt Benoit. „Man kann es benutzen, um seinen Fisch in der Küche zuzubereiten, aber auch, um Feinden die Kehle durchzuschneiden.“
Der ehemalige Sklavenhafen Ouidah im Süden Benins gilt als Wiege des Voodoo. Dort wurde Voodoo ursprünglich als ein System zur ganzheitlichen Betrachtung des Kosmos und der menschlichen Existenz auf der Erde verstanden. Es umfasst alles Natürliche, Soziale und Spirituelle in dem Bestreben, den Gesetzen der Natur zu entsprechen. Naturkräfte nehmen im Voodoo und seinem Blick auf das Universum einen entsprechend zentralen Platz ein. Dieses System soll so auch den Zusammenhalt und das Miteinander verschiedener Gruppen fördern. Auch deshalb passen Voodoo-Praktiken gut mit anderen Religionen zusammen.
Voodoo-Anhänger*innen glauben, dass Voodoo genau deshalb existiert: um Harmonie und Verständnis innerhalb von und zwischen Gemeinschaften zu schaffen. Daher ist Hexerei eine verwerfliche Abweichung des Voodoo, ebenso wie schwarze Magie.
Da ein großer Teil der afrikanischen Tradition früher mündlich überliefert wurde, brauchten Familien ein gemeinsames starkes Symbol, mit dem sie sich identifizieren konnten. Die Python war beispielsweise die verehrte Gottheit der Adjovi-Familie von Ouidah. Viele Menschen übernahmen diese Voodoo-Gottheit und bauten darauf auf, um ihre Einheit zu stärken. Bis zu fünfzig Familien im heutigen Ouidah können so vereint behaupten, demselben Voodoo-Gott zu gehorchen.
Da die Mehrheit der Beniner*innen Voodoo in irgendeiner Form praktiziert und darunter Millionen von Analphabet*innen und armen Menschen sind, instrumentalisieren auch Machthaber die Religion immer wieder für ihre Zwecke. Der frühere Präsident Nicéphore Soglo, der Benin von 1991 bis 1996 regierte, soll etwa dank heilender Voodoo-Kräfte vor der Vergiftung durch politische Gegner*innen gerettet worden sein. Als Dank erklärte er den 10. Januar offiziell zum jährlichen Voodoo-Tag.
Das reichte zwar nicht, um ihm eine zweite Amtszeit zu sichern, aber seither haben Politiker*innen erkannt, dass sich Millionen von Stimmen gewinnen lassen, wenn sie sich besonders an arme und ungebildete Voodoo-Anhänger*innen wenden. Riesige Summen werden für die Renovierung von Voodoo-Tempeln und des Strandes von Ouidah ausgegeben, wo die wichtigsten Voodoo-Feiern stattfinden. Dieses Jahr am 10. Januar organisierten die Behörden dort eine prunkvolle Feier. Politiker*innen stellen sich darüber hinaus oft mit Voodoo-Führer*innen und -Priester*innen gut, in der Hoffnung, von spirituellen Kräften zu profitieren.
Alle Wege führen zu Gott
Da in Benin so viele Religionen praktiziert werden, ist es oft schwer zu sagen, wer Muslim*in, Christ*in, Voodoo-Anhänger*in oder etwas anderes ist – oder auch mehreren Religionen gleichzeitig angehört. Die Menschen in Benin sind dafür bekannt, verschiedene Religionen zu vermischen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben.
Einige Priester der katholischen Kirche in Benin verurteilen diesen Synkretismus in ihren Predigten. Auch muslimische Geistliche verurteilen diese Praktiken scharf. Protestant*innen in Benin haben hingegen eine liberalere Haltung. Pfarrer Henri Harry, ein verstorbenes Oberhaupt der evangelischen Kirche, sagte, er sehe nichts Falsches darin, wenn Christ*innen Voodoo-Tempel besuchten, und versuchte pragmatisch zu bleiben – für viele Menschen in Benin führen eben viele Wege zu Gott. Zuletzt hat auch die katholische Kirche ihre Haltung gelockert und versucht, sich in lokale Bräuche und Kulturen zu integrieren, um nicht nur zu überleben, sondern auch zu wachsen.
Saat der Spaltung
Vor kurzem hat die aktuelle Regierung unter Präsident Patrice Talon beschlossen, verschiedene religiöse Würdenträger*innen, Könige und traditionelle Oberhäupter offiziell anzuerkennen. Die Zahl der Tempel, Klöster und anderer Kultstätten ist daraufhin explodiert. Talon ist ein starker Befürworter des Voodoo, interveniert aber gleichzeitig gelegentlich, um die verfeindeten muslimischen Gemeinschaften in Cotonou, der größten Stadt Benins, zu versöhnen.
Heute haben neue Voodoo-Gottheiten aus Ghana, hinduistische Sekten aus Indien und muslimische Bewegungen wie Ahmadiyya viele Anhänger*innen in Benin. Auch Rosenkreuzertum und Freimaurerei verzeichnen eine große Zahl von Gläubigen. Neue Gotteshäuser, sogenannte „Kirchen des Erwachens“, schießen wie Pilze aus dem Boden. Viele von ihnen behaupten, gegen Hexerei und dunkle Kräfte zu kämpfen. Einige versprechen Gläubigen sofortigen Reichtum.
Dennoch besuchen viele Christ*innen und Muslim*innen weiterhin heimlich Voodoo-Schreine, oft auf der Suche nach materiellem Reichtum und spirituellen Kräften. Viele sind gleichzeitig Mitglieder geheimer Kulte.
Obwohl ein interreligiöser Dialog geführt wird, um den Frieden in Benin zu fördern, kommt es zu Brüchen in der Harmonie zwischen den Gruppen. Vor allem dschihadistische Aufständische, die im Norden Benins gewalttätige Anschläge verüben, nutzen religiösen Hass und negative Propaganda, um Zwietracht zu säen.
Karim Okanla ist Dozent für Medienwissenschaften und freier Journalist aus Benin. Sein Buch „Voodoo in Benin: a blessing or a curse?“ ist 2023 bei Les Éditions du Flamboyant et Communications in Cotonou erschienen.
karimokanla@yahoo.com