Flüchtlinge

Tatenloser Staat

Pakistan muss mit mehr Flüchtlingen und Binnenvertriebenen (IDPs) zurechtkommen als irgendein Land der Europäischen Union. Afghanische Flüchtlinge wie IDPs leben dort unter miserablen Bedingungen. Die staatlichen Behörden erweisen sich als unfähig, sie angemessen zu unterstützen. Islamistisch-militante Strömungen, die die Sicherheit des Landes gefährden, werden dadurch verstärkt.


[ Von Mohammad Ali Khan ]

In diesem Sommer mussten der 50-jährige in Pakistan lebende afghanische Flüchtling Asmatullah und seine18-köpfige Großfamilie ihren Wohnsitz verlassen – bereits zum zweiten Mal.

1979 war Asmatullah aus der afghanischen Lughman Provinz in das Kouga Camp geflüchtet – eines der größten Lager für afghanische Flüchtlinge in Pakistan, das während des Krieges, der auf die Invasion der Roten Armee folgte, eingerichtet wurde. Im Mai 2009 wurde er erneut vertrieben, diesmal innerhalb seines Aufnahmelandes, nachdem das pakistanische Militär eine Offensive gegen Militante im Buner-Distrikt in Pakistans Nordwestprovinz (NWFP) gestartet hatte.

„Bis Mitte der 90er Jahre gab es Hilfe von der internationalen Gemeinschaft, jetzt haben wir gar nichts bekommen“, klagt Asmatullah. „Nur pakistanische Staatsbürger mit nationalem Personalausweis können als Binnenvertriebene (IDPs) registriert werden.“

Obwohl in Pakistan lebende Afghanen Flüchtlingsstatus haben, erhalten sie seit 1995 keinerlei Nahrungsmittelhilfe vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Die internationale Hilfsorganisation spricht von „Spendenmüdigkeit“.

Wegen der fehlenden Hilfe und mangelnder Möglichkeiten, sich im kriegszerrütteten Afghanistan ihren Lebensunterhalt zu verdienen, haben mehr als 1,9 Millionen registrierte afghanische Flüchtlinge diverse Tätigkeiten in Pakistan angenommen. Die Regierung hat ihnen Spezialausweise ausgestellt, die ihren Aufenthalt im Gastland bis ursprünglich 2009 legitimierten. Diese wurden nun wegen der andauernden Instabilität in Afghanistan bis 2012 verlängert. All jenen, die ihr neues Zuhause in Pakistan verlassen mussten, hilft das allerdings wenig.

Die Geschichte der Flüchtlingslager war von Anfang an kompliziert. Ende 1979 boten sie Kriegsflüchtlingen Zuflucht, nachdem die Sowjetkräfte in Afghanistan eingefallen waren.

Zugleich aber wurden von dort Guerrilla-Kämpfer rekrutiert, was die USA, Saudi-Arabien und andere Länder zunächst unterstützten. Nach den Terrorangriffen auf New York und Washington im September 2001 jedoch wendeten sich die USA gegen die Islamisten. Durch den neuerlichen Krieg in Afghanis­tan nahm auch die Gewalt in Pakistan zu (siehe Kasten).

Militäreinsätze

Pakistan startete Anfang 2004 einen ersten Militäreinsatz, um die Taliban und ihre Sympathisanten aus dem Stammesgebiet Süd-Waziristan zu vertreiben. Dieser Einsatz löste die erste interne Vertreibungswelle von dieser Region in die benachbarte Nordwestprovinz aus. Dennoch wurden die Militanten zunehmend in Nord-Waziristan und anderen Stammesgebieten aktiv und konnten ihren Einfluss auch auf andere Landesteile ausweiten.

Im April dieses Jahres startete die pakistanische Armee einen Großangriff in der Swat-Region und umliegenden Distrikten. Dort ist zahlenmäßig ein Viertel der Bevölkerung der Nordwestprovinz (NWFP) beheimatet. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) sind mehr als 3,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen. Die humanitäre Situation in der Region war vergleichbar mit der während des Afghanistan-Krieges in den 80er Jahren. Das Ausmaß der Vertreibungen übersteigt alles, was die Menschheit in den vergangenen 15 Jahren gesehen hat.

Der plötzliche Zustrom von intern Vertriebenen ins Innere Pakistans hat die Unfähigkeit der staatlichen Agenturen, adäquat zu reagieren, offengelegt. Die meisten Binnenvertriebenen lebten bei Gastfamilien oder hatten Häuser in verschiedenen Teilen des Landes gemietet. Weniger als vier Prozent sind in Hilfscamps lokaler und internationaler Organisationen untergekommen.

Allgegenwärtig sind Überschneidungen in der Rechtsprechung, mangelnde Koordination und beschränkte Kapazitäten der staatlichen Hilfsagenturen. Verzweifelte Familien erhielten einfach nicht die Unterstützung, die sie gebraucht hätten. Laut Sikandar Hayat Sherpao, einem Mitglied der Nordwestprovinz-Versammlung, hat die Regierung darin versagt, rechtzeitig Hilfseinsätze für die intern Vertriebenen zu organisieren. „Sie haben gewartet, bis die Katastrophe passiert war. Von Menschen verursachte Desaster geben der Regierung Zeit, sich darauf vorzubereiten, aber diesen Vorteil hat man bei den aktuellen Vertreibungen nicht genutzt“, so Sherpao.

Die UN hatten in einem Eilverfahren zu Spenden aufgerufen für die Menschen, die durch die Konflikte zwischen Sicherheitskräften und Taliban im Swat-Tal und anderen Teilen des Malakand zur Flucht gezwungen wurden. „Das Ausmaß dieser Vertreibungen ist außergewöhnlich, sowohl hinsichtlich der Größe als auch der Geschwindigkeit, und hat erhebliches Leiden verursacht“, sagte Martin Mogwanja, der amtierende UN-Koordinator für humanitäre Fragen, als er im Mai zur Hilfe aufrief. „Wir brauchen insgesamt 543 Millionen Dollar Hilfe bis Ende dieses Jahres“, kündigte er an. Bisher ist es den UN gerade einmal gelungen, 200 Millionen Dollar an Zusagen zu sichern. Die Nahrungsmittelhilfe der UN (WFP) verteilt die dringend benötigten Lebensmittel an die notleidenden Menschen. Inzwischen hat sich die Lage im Swat und in Malakand langsam etwas beruhigt, und der Großteil der Binnenvertriebenen ist heimgekehrt. Der Staat jedoch ist weiterhin unfähig, betroffenen Menschen zu helfen.

Desorganisierte Behörden

Seine geostrategische Lage macht Pakistan verletzbar für Naturkatastrophen wie auch für von Menschen verursachte Krisen. Migration aus Afghanistan und die derzeitigen Vertreibungen, Erdbeben und Überflutungen – all das erfordert effektive Mechanismen zur Risikominderung. Doch diese fehlen dem Land, in dem rund 160 Millionen Menschen leben.

Das Erdbeben im Jahr 2005 verursachte großen menschlichen und materiellen Schaden, auch damals mussten tausende Familien ihre Heimat verlassen. Neue geologische Studien sagen ähnliche Ereignisse für die Zukunft voraus.

Als Reaktion auf das Erdbeben von 2005 hat Pakistan eine Nationale Katastrophen-Management-Behörde (NDMA) eingerichtet. Einige Geber-Agenturen steuerten technische Expertise bei. Doch selbst vier Jahre später, als die Swat-Offensive begann, war die Regierung noch immer nicht in der Lage, sich entschieden für die Vertriebenen einzusetzen.

Stattdessen wurde eine weitere Notfall-Einheit (ERU) eingerichtet. Die Regierung begründete das damit, dass die NDMA nicht die Kapazitäten habe, die Versorgung der IDPs zu übernehmen.

Zu den typischen Herausforderungen der Ka­tastrophenhilfe gehören die Lagerverwaltung, ausreichende Lebensmittelversorgung und Identifizierung sowie Registrierung der betroffenen Familien. Die pakistanischen Behörden waren dazu im Jahr 2005 nicht in der Lage, und sie sind es auch in diesem Jahr nicht.

Nach dem Erdbeben 2005 gelang es der Regierung auch nicht, operative Verhaltensstandards (SOPs) festzulegen. Die Aufgaben der einzelnen Regierungsabteilungen im Notfall sind noch nicht festgelegt, ebenso wenig passende Plätze für Hilfslager. Also wurden die meisten Camps auch in diesem Jahr an ungeeigneten Orten errichtet – viele Menschen starben aufgrund von Hitze und schlechten hygienischen Bedingungen.

Die größte Herausforderung besteht nun darin, die während des Konflikts zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen, was Milliarden von Dollar kosten wird. Allein im Swat, der am schlimmsten betroffenen Region, wurden in den vergangenen zwei Jahren mehr als 200 Schulen von Militanten in die Luft gesprengt. Shakeel Qadir, Leiter des Amtes für Notfallversorgung, Wiederaufbau und Wiedereingliederung der Provinz, sagt, die Zerstörung sei so groß, dass Wiederaufbau ohne Hilfe der internationalen Gemeinschaft unmöglich sei.

Während einige Binnenvertriebene in den Norden zurückkehren, ist es in Südpakistan nach einem Militäreinsatz gegen Baitullah Mehsud, den Anführer der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), zu neuen Vertreibungen gekommen. Die US-Regierung hatte ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Mehsud wurde am 5. August bei einem US-Raketenangriff auf seine Heimat Südwasiristan getötet.

Die Menschen aus der Krisenregion flüchteten sich in andere Teile Pakistans. Berichten zufolge haben sie bisher keine nennenswerte Hilfe erhalten. Mehsuds Tod wird als strategischer Sieg gewertet – ob dieser Triumph den dadurch entstandenen Schaden überwiegt, wird sich allerdings erst noch zeigen.

Der Boden für mehr Unzufriedenheit ist fruchtbar, solange Binnenvertriebene nicht in ein würdiges Leben zurückkehren können.

Es bleibt zu hoffen, dass alte Fehler nicht immer wieder passieren. Ein weises Sprichwort besagt: Der Fehler der Vergangenheit sollte die Weisheit und der Erfolg der Zukunft sein.

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