Identity politics

Warum das Akronym BIPoC nichts erklären muss

Das Kürzel „BIPoC“ (“Black, Indigenous and People of Colour”) ist eine Selbstbezeichnung, die in erster Linie Solidarität zwischen Menschen symbolisiert, die rassistische Diskriminierung erfahren haben. Der Begriff taugt nicht dazu, gesellschaftliche Zusammenhänge oder bestimmte Menschen einordnen zu können.
Proteste im Januar 2023 in Memphis nach dem Tod des Schwarzen Tyre Nichols, der an den Folgen eines brutalen Polizeieinsatzes starb. picture alliance / AA / Tayfun Coskun Proteste im Januar 2023 in Memphis nach dem Tod des Schwarzen Tyre Nichols, der an den Folgen eines brutalen Polizeieinsatzes starb.

„BIPoC“ oder die ältere Bezeichnung „PoC“ sind Akronyme, die in der Vergangenheit häufig falsch und unspezifisch verwendet wurden – und zwar in erster Linie von weißen Menschen. Daher ist es wichtig, zunächst offenzulegen, dass dieser Text eine Gegenmeinung zu Hans Dembowskis Beitrag zum Thema ist, und sich damit zwei weiße Menschen mit diesem Begriff beschäftigen. 

Das ist insofern ein Widerspruch, als die Akronyme nicht für die Verwendung durch Weiße geschaffen wurden, wie im Laufe dieses Textes deutlich werden wird. Das Hauptziel besteht jedoch darin, eine analytische Perspektive auf die zugrundeliegenden Konzepte zu bieten, auch wenn dies den beschriebenen Widerspruch nicht auflöst.

Der Begriff „(free) people of color” bezeichnete im 19. Jahrhundert freigelassene Sklav*innen in den USA. Auch Menschen mit einem europäischen und einem afrikanischen Elternteil, die größeren gesellschaftlichen Einfluss hatten, wurden vor allem in französischen Kolonien der Karibik „gens de couleur libres“ genannt.  

Martin Luther King verwendete 1963 den Begriff „citizens of color“. Infolgedessen gewann der Begriff in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung an Bedeutung, vor allem auch als Wiederaneignung des abwertenden Begriffs „colored“, der sich in den USA während der Zeit der Rassentrennung etwa auf Orte wie Hotels, Warteräume oder Schulen bezog, in die Afroamerikaner*innen separiert von der weißen Bevölkerung gehen mussten.

Figuren wie Che Guevara, Patrice Lumumba oder Kwame Nkrumah

PoC meint seither ein Bündnis verschiedener Communities, die strukturelle Rassismuserfahrungen gemacht haben und durch diese Selbstbezeichnung Solidarität herstellen wollen. Dieses Verständnis ist unter anderem inspiriert durch den Geist der internationalen Solidarität der 1960er-Jahre, getragen durch zentrale Figuren wie Che Guevara, Patrice Lumumba oder Kwame Nkrumah – und in den USA vor allem durch die Black Panther Party.

Der Begriff PoC ist also ein Gegenentwurf zu rassistischen Strukturen, die darauf basieren, eine Gesellschaft zu teilen und Unterschiede zu betonen. Er entstand, als sich marginalisierte Gruppen selbst behaupteten, organisierten und begannen, politisch zusammenzuarbeiten.

„People of Color“ und „Migrationshintergrund”

Der Begriff verfing zuerst in den USA, wird aber mittlerweile auch anderswo verwendet. In Europa wird er vor allem gebraucht, um den Fokus auf erlebten Rassismus zu legen – und nicht etwa auf Migrationserfahrung. Er steht somit in Abgrenzung zu Bezeichnungen wie „Migrationshintergrund“. Der Politologe Kien Nghi Ha spricht vom „People of Color-Ansatz“, der Antirassismus auf identitätspolitischer Ebene befördern will und dabei gerade die vielfältigen Zugehörigkeiten von Menschen anerkennt.

Es geht also nicht um Zuordnungen zu bestimmten Gruppen, und schon gar nicht soll der Begriff es der weißen Gesellschaft einfacher machen, Fremdzuschreibungen zu formulieren und marginalisierte Menschen in Kategorien zu stecken. Die Entstehung dieses Begriffs ist vielmehr ein Resultat aus einem weißen, rassifizierenden Blick auf alle „anderen“ und aus allen Grausamkeiten, die daraus entstanden. Somit spielen Hautschattierungen und Herkunft innerhalb des marginalisierten Spektrums hier zunächst einmal keine Rolle. Es geht, wie Kien Nghi Ha richtig formuliert, stattdessen um die grenzüberschreitenden Selbstbeschreibungen eben jener Menschen.

Dieser Grundgedanke des „People of Color-Ansatzes“ unterstreicht gegenseitige Verbundenheit und weniger die unterschiedlichen Erfahrungen, die subsumierte Gruppen mit Rassismus gemacht haben und noch immer machen. Der Zusatz „Black and Indigenous“, der das Akronym zum heute gängigen und viel diskutierten „BIPoC“ machte, versucht, bestimmte Gruppen innerhalb des Ansatzes sichtbarer zu machen und beim Sprechen mitzudenken. Die Befürchtung war, dass diese Gruppen in „People of Color“ zu sehr untergehen, aufgrund ihrer gravierenden Rassismuserfahrungen jedoch zentral für den Verbundenheitsgedanken sind. Wann genau dieser Zusatz entstand, ist unklar. Die New York Times verfolgte sein erstes Auftreten auf X (damals Twitter) bis ins Jahr 2013 zurück.

Kritik am Begriff BIPoC

Hans Dembowski argumentiert, der Begriff sei aus verschiedenen Gründen wenig nützlich, insbesondere in Weltregionen wie Südasien und Afrika, wo es auf andere Zugehörigkeiten ankomme. Er schreibt richtigerweise, dass das gesamte Konzept mittlerweile umstritten ist – „weil nicht alle Mitglieder dieser Gruppen in einer Gesamtkategorie zusammengeworfen werden wollen, die ‚den Weißen‘ gegenübergestellt werden kann“. Ein wesentlicher Grund dafür, dass Teile marginalisierter Gruppen den Begriff BIPoC ablehnen, ist allerdings, dass viele Weiße ihn falsch oder missbräuchlich verwenden. Damon Young, ein Schwarzer amerikanischer Schriftsteller, schreibt in einem Essay, dass „PoC“ mittlerweile auf der einen Seite zu einer Alternative für Weiße geworden sei, die sich nicht wohl damit fühlten, einfach „Schwarz“ zu sagen. 

Auf der anderen Seite sei der Begriff in den USA zu einem Zweck geworden: Indem Unternehmen wie Individuen „PoC“ sagen, hätten sie das Gefühl, dem Antirassismus genüge getan zu haben und sich nicht weiter damit auseinander setzen zu müssen. So ist der Begriff von seiner ursprünglichen Bedeutung für Young durch diese Nutzung zu einer sprachlichen Geste verkommen. 

In-Groups und Out-Groups

Ähnlich argumentierte die amerikanische Feministin Loretta Ross bereits 2011 in einem mittlerweile häufig zitierten YouTube-Video, wobei sie sich auf den Begriff „Women of Color“ bezieht. Dieser sei derart inflationär von Weißen verwendet worden, dass er seine ursprüngliche politische Bedeutung verloren habe. Mittlerweile glaubten viele, Weiße hätten ihn erfunden, so Ross. Im Video sagt sie: „This is a term that has a lot of power for us. But we’ve done a poor-ass job of communicating that history so that people understand that power.”

Was mit dem Begriff BIPoC passiert ist, ist typisch für Sprache, die wir verwenden, um über (politische) Unterdrückung unter anderem aufgrund von Identität zu sprechen, wie die Publizistin Constance Grady in einem Beitrag auf Vox schreibt, in dem sie sich linguistisch mit dem Akronym befasst. Eine In-Group entwickelt eine Selbstbeschreibung, um über Erfahrungen zu sprechen, die die Mitglieder dieser Gruppe gemeinsam haben. Wenn der Begriff verfängt, beginnen Out-Groups ihn unspezifisch zu verwenden und berauben ihn damit seiner politischen Kraft. 

Damit wollen die Out-Groups, wie Grady richtigerweise anmerkt, nicht unbedingt aktiv schaden. Im Falle von „BIPoC” ist es oft vielmehr der Versuch, die richtigen Worte zu benutzen – allerdings ohne wirklich über ihre Bedeutung nachzudenken. 

Keine „Unterdrückungsolympiade“

Die Protagonistin in Chimamanda Ngozi Adichies brillantem Buch „Americanah“ schreibt in ihrem fiktiven Blog, dass in Amerika eine „Unterdrückungsolympiade“ stattfindet – verschiedene Minderheiten „kriegen von den Weißen Scheiße ab, verschiedene Arten von Scheiße, aber immer noch Scheiße. Jede Minderheit glaubt insgeheim, dass sie die schlimmste Scheiße abbekommt.“ Das zeigt für Adichies Protagonistin deutlich: Es gibt keine “Vereinigte Liga der Unterdrückten“.

Genau das ist aber, überspitzt formuliert, ein Ausgangspunkt für die Begriffe BIPoC und PoC. Der Ansatz ist aus dem Wunsch heraus entstanden, jahrhundertelanger Unterdrückung durch Rassismus einen gemeinsamen Standpunkt zu geben, und zwar ohne Hierarchisierung dieser Unterdrückung.

Dass gleichzeitig Menschen verschiedener Gruppen benannt werden und nicht hinter einem Akronym verschwinden wollen, ist so legitim wie nachvollziehbar. Ebenso verständlich ist allerdings, dass sich Menschen der eigentlichen In-Group des Begriffs BIPoC nicht mehr damit identifizieren können, seitdem vor allem die weiße Gesellschaft als Out-Group ihn missbraucht: teils als leere, vermeintlich antirassistische Geste; teils in der Erwartung, er müsse komplexe Identitäten erklären – was er freilich nicht leisten kann, und wozu er auch nicht erschaffen wurde. 

Die Berechtigung des Akronyms selbst zieht dies allerdings nicht infrage. Der anfängliche Solidaritätsgedanke hinter dem Kürzel ist nach wie vor valide. Sofern es als Marker ähnlicher Erfahrungen dient und unter einem sehr großen Teil der Menschheit Solidarität herstellen kann, ist es weiterhin ein potenziell sehr machtvolles Konzept. 

Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z/D+C. 
euz.editor@dandc.eu