Völkerrecht

Westliche Länder müssen Völkerrecht konsequent achten

Viele Entwicklungs- und Schwellenländer haben sich der Position des Westens zum Krieg Russlands in der Ukraine nicht angeschlossen. Ein Grund dafür: Die USA und ihre Verbündeten haben ihre eigene Glaubwürdigkeit in Bezug auf das Völkerrecht in der Vergangenheit stark beschädigt.
US-Außenminister Antony Blinken besucht im September den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. US-Außenminister Antony Blinken besucht im September den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew.

Die territoriale Integrität eines souveränen Staates wie der Ukraine kann nur auf dem Verhandlungsweg geändert werden, nicht aber mit Gewalt. Dafür steht das in der UN-Satzung festgeschriebene Gewaltverbot, die grundsätzliche Norm unserer völkerrechtlichen Ordnung. Wer diese Norm verletzt, stellt die Ordnung selbst infrage. Russland hat genau das getan: Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Land offenkundig Völkerrecht gebrochen und verschlimmert diesen Bruch täglich weiter, sei es durch unterschiedslose Flächenbombardements oder durch Landraub auf der Grundlage sogenannter Referenden und nachfolgender Annexionen.

Die Staaten des Westens unterstützen die Ukraine massiv mit politischen, finanziellen, humanitären und militärischen Mitteln. Zugleich haben sie umfangreiche Sanktionen gegen Russland verhängt. Sie erheben den Anspruch, mit ihrer Ukraine-Politik das Gewaltverbot zu verteidigen und die regelbasierte Völkerrechtsordnung wiederherzustellen. Nicht nur die Führungsmacht USA vertritt diese Position, sondern auch maßgebliche Politikerinnen und Politikern hierzulande, etwa Bundesaußenministerin Annalena Baerbock.

Auf internationaler Ebene erfährt die westliche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg allerdings keineswegs umfassende Unterstützung. Eine Analyse der Resolutionen der UN-Generalversammlung vom 2. März (explizite Verurteilung des russischen Angriffskriegs) und vom 12. Oktober (Verurteilung der sogenannten Annexionen) zeigt: Zwar stimmten von 193 Staaten immerhin 141 beziehungsweise 143 für die jeweilige Resolution.

Doch ließen diese Staaten dieser Abstimmung nur sehr eingeschränkt und in kleiner Zahl – knapp über 40 Staaten – Taten folgen, etwa in Form von wirtschaftlichen Sanktionen und militärischer Unterstützung der Ukraine. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern auch erstaunlich angesichts der Schwere und Konstanz der russischen Völkerrechtsverletzung. Insbesondere mehrere Entwicklungs- und Schwellenländer haben sich dem Westen in dieser Hinsicht nicht angeschlossen.

Beschädigte Glaubwürdigkeit

Diese begrenzte globale Unterstützung hat mehrere Gründe. Sie reichen von in der Kolonialzeit begangenem Unrecht bis hin zur gegenwärtigen politischen, ökonomischen und/oder militärischen Unterstützung dieser Länder durch Russland (siehe Imme Scholz auf www.dandc.eu).

Eine wichtige Rolle spielt aber auch, dass die Glaubwürdigkeit des Westens erheblich beeinträchtigt ist durch Völkerrechtsverletzungen westlicher Staaten in der jüngeren Geschichte. Die Liste ist leider lang. Besonders ins Auge fällt die US-geführte Invasion des Iraks im Jahr 2003 unter dem damaligen Präsidenten George Bush junior: Sie verstieß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot, weil sie weder durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates gedeckt war noch durch das Recht auf Selbstverteidigung. Ein aktuelleres Beispiel sind Hinrichtungen ohne vorheriges Gerichtsverfahren durch Drohnen im Rahmen des US-amerikanischen „Kriegs gegen den Terror“, etwa die jüngste Tötung des Al-Qaida-Führers Aiman al-Sawahiri in der afghanischen Hauptstadt Kabul Ende Juli dieses Jahres. Solche Rechtsbrüche untergraben die Glaubwürdigkeit des Westens in Völkerrechtsfragen – auch wenn Russlands Angriff auf die Ukraine sich von diesen Völkerrechtsverletzungen in gradueller Hinsicht durchaus unterscheidet (siehe Hans Dembowski auf www.dandc.eu).

Der Verlust an Glaubwürdigkeit betrifft nicht allein die USA, sondern auch ihre Verbündeten. Auch Deutschland und die EU sollten sich deshalb völkerrechtlich noch konsequenter positionieren als bisher, etwa zu nichtlegalen Hinrichtungen. Sie sollten selbstbewusst benennen, wo ihre Interessen denen der USA entgegenstehen, und auch Kritik oder Bedenken äußern. Nur wenn sich der Westen selbst konsequent an das Völkerrecht hält, kann er es dort glaubwürdig verteidigen, wo es so massiv verletzt wird wie derzeit in der Ukraine.


Buch
Ambos, K., 2022: Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine. Frankfurt a. M., Westend.


Kai Ambos ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Uni Göttingen.
kambos@gwdg.de

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