Tschadseeregion

Nexus ist sinnvoll

In der langwierigen, komplexen Krise im Tschadseebecken ist der viel diskutierte Nexus-Ansatz eine geeignete Lösung, findet der Katastrophenschutz-Experte Fabian Böckler. Nexus bedeutet eine verbesserte und zeitgleiche Zusammenarbeit zwischen den Bereichen humanitäre Hilfe, Entwicklungs- und Friedensförderung.
Ein von Boko Haram verwüstetes Dorf in der Nähe von Maiduguri in Nigeria: Die Terrormiliz trägt zur Destabilisierung der Tschadseeregion bei. picture-alliance/AP Photo Ein von Boko Haram verwüstetes Dorf in der Nähe von Maiduguri in Nigeria: Die Terrormiliz trägt zur Destabilisierung der Tschadseeregion bei.

Die langwierige Krise im Tschadseebecken gehört zu den größten humanitären Krisen der Welt. Die Region ist chronisch fragil – Armut, Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven für junge Leute haben Extremismus geschürt. Verschlimmert wird die Situation durch Umweltzerstörung und die Auswirkungen des Klimawandels. Diese „Entwicklungskrise“ der marginalisierten Regionen rund um den Tschadsee resultierte in einem bewaffneten Konflikt, unter dem die Menschen in den betroffenen vier Ländern nun seit zehn Jahren leiden (siehe Lea Diehl im Monitor, E+Z/D+C e-Paper 2018/09).

Die Krise hat sich innerhalb der vergangenen Jahre vom Nordosten Nigerias auf die Nachbarländer Kamerun, Niger und Tschad ausgeweitet, mit negativen Auswirkungen auf das Leben von mehr als 17 Millionen Menschen. Elf Millionen Menschen, mehr als die Hälfte davon Kinder, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mehr als 2,4 Millionen Menschen wurden gewaltsam vertrieben – als Binnenvertriebene oder Flüchtlinge leben sie nun entweder in Lagern oder in aufnehmenden Gemeinden verstreut über die Region.

In dieser Region ist der traditionelle LRRD-Ansatz (Linking Relief, Rehabilitation and Development) nicht geeignet: Er geht von der Annahme aus, dass im Katastrophenfall kurz-, mittel- und langfristige Hilfsmaßnahmen aufeinander abgestimmt werden und dass humanitäre Hilfe zunächst in Wiederaufbau und von dort in entwicklungspolitische Maßnahmen übergeht. Dies hat sich in komplexen Krisen und Konflikten als nicht haltbar erwiesen. Daher ergibt im Tschadseebecken der Nexus-Ansatz (siehe Sid Johann Peruvemba im Schwerpunkt E+Z/D+C e-Paper 2018/06) sehr viel mehr Sinn.


Bedürfnisse gleichzeitig angehen

Menschen in Krisengebieten haben gleichzeitig verschiedene Bedürfnisse: Sie benötigen humanitäre Hilfe, Entwicklungsmaßnahmen und friedensfördernde Maßnahmen. Hier ist es wichtig zu definieren, was mit Friedensförderung gemeint ist, und welchen Beitrag zivilgesellschaftliche Organisationen leisten können.

Aktuell kommt es im Tschadseebecken verstärkt zu sozialen Spannungen auf Gemeindeebenen. Diese haben mehrere Dimensionen, beispielsweise:

  • Spannungen zwischen Binnenvertriebenen, Flüchtlingen und aufnehmenden Gemeinden bezüglich Zugang zu Lebensgrundlagen und zu sozialer Basisinfrastruktur (Schulen, Gesundheitszentren etc.),
  • Spannungen zwischen Landwirten und Viehzüchtern: diese nehmen durch einen Mangel an Bewegungsfreiheit, der durch den Konflikt hervorgerufen ist, weiter zu,
  • Stigmatisierung und Marginalisierung von Opfern genderbasierter Gewalt und von Personen, die (freiwillig oder unfreiwillig) als Unterstützer von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen gezählt werden.

Bei dem Nexus-Ansatz im Tschadseebecken geht es also darum, die Situation durch zeitgleiches Engagement und geteilte Verantwortung von Akteuren der humanitären Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung zu verbessern. Dieser Ansatz erkennt an, wie wichtig es ist, den unmittelbaren humanitären Bedarf zu decken und gleichzeitig das Entwicklungsdefizit der Region zu bekämpfen, das sowohl Mitauslöser für die Krise ist, als auch zur Krise beiträgt.

Ganz wichtig ist es dabei, einen gebietsbezogenen Ansatz zu verfolgen, denn die Annahme, dass der Bedarf in den drei Bereichen zeitgleich besteht, bedeutet nicht, dass er überall in gleichem Maß besteht. Selbst Gemeinden, die nur wenige Kilometer auseinanderliegen und zur gleichen administrativen Region gehören, können Bedürfnisse in unterschiedlicher Ausprägung haben.

Dementsprechend ist es wichtig, dass die jeweilige Intervention entsprechend der unterschiedlichen Bedürfnisse erfolgt. Ausschlaggebend hierfür ist eine gemeinsame Kontextanalyse sowohl über Organisationsgrenzen hinweg als auch im Sinne von humanitärer Hilfe – Entwicklungszusammenarbeit – Friedensförderung. Diese sollte dann in eine gemeinsame Planung münden, bei der die entsprechenden Stärken der jeweiligen Akteure zum Tragen kommen.

Gerade humanitäre Organisationen verweisen an dieser Stelle oft darauf, dass zuallererst die humanitäre Notlage gelindert werden muss – und dies sicherlich auch zu Recht. Dabei zeigt jedoch die Erfahrung rund um das Tschadseebecken, dass die Arbeit der humanitären Organisationen nicht in erster Linie durch eine gemeinsame Analyse und Planung unter Druck gerät. Vielmehr treten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der eigentlichen Tätigkeit innerhalb des Konfliktgebiets auf. So haben Hilfsorganisationen aktuell keinen Zugang zu etwa 800 000 Menschen im Nordosten.


Gemeinsame Analyse und Planung

In allen anderen Gemeinden im Tschadseebecken wird humanitäre Hilfe nicht in einem Vakuum umgesetzt, sondern dort, wo auch Akteure der Entwicklungsarbeit und der Friedensförderung tätig sind. Eine gemeinsame Analyse und Planung auf Gemeindeebene und darüber hinaus ist daher für eine effektive und nachhaltige Unterstützung der Betroffenen unabdingbar. Gerade für Organisationen mit einem dualen Mandat bietet der Nexus hier eine große Chance.

Dieser Logik folgt mittlerweile auch die internationale Staatengemeinschaft. Die Krise im Nordosten Nigerias wurde zunächst sowohl von der nigerianischen Regierung als auch von der internationalen Gemeinschaft ignoriert. Erst im Jahr 2016 kam es zu einer deutlichen Steigerung der humanitären Anstrengungen, und im darauffolgenden Jahr konnte mit vereinten Kräften eine Hungersnot abgewendet werden. Die Humanitäre Konferenz zu Nigeria und der Tschadseeregion (Oslo I), die im Februar 2017 in Norwegen stattfand, hatte damals einen vorwiegend humanitären Charakter, und die Diskussionen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Bereiche Schutz, Bildung, Nahrungssicherheit und Ernährung. Anschließend änderte sich jedoch der Diskurs.

Im Anschluss an die Oslo-I-Konferenz wurde die regionale Zusammenarbeit gestärkt, um zugrundeliegende Ursachen der Krise anzugehen sowie Krisenprävention und Stabilisierung zu stärken. Diese Bemühungen mündeten schließlich im August 2018 in der Regionalstrategie für Stabilisierung, Wiederaufbau und Resilienz der von Boko Haram betroffenen Gebiete in der Tschadseeregion, die von der Afrikanischen Union, der Lake-Chad-Basin-Kommission sowie den betroffenen Staaten beschlossen wurde.

Auf der zweiten Konferenz zur Tschadseeregion (Oslo II) im September 2018 in Berlin diskutierten die betroffenen Regierungen, die internationale Gemeinschaft, Geber und die Zivilgesellschaft humanitäre Hilfe, Krisenprävention und -stabilisierung sowie nachhaltige Entwicklungsarbeit zusammen. So sollte die Krise zukünftig in einer umfassenderen und besser miteinander abgestimmten Art und Weise angegangen werden können.

Der neue regionale Flüchtlingsplan 2019/2020 für Nigeria, der sich auf die Aufnahmeländer des Tschadseebeckens fokussiert (Kamerun, Niger und Tschad), ist zum ersten Mal zweijährig und unter der geteilten Verantwortung der UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) und dem UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) ausgearbeitet worden. Er setzt sich zum Ziel, dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden zu schaffen. In dieser Situation, in der die lokale Bevölkerung in den Aufnahmegemeinden unterhalb der Armutslinie lebt, wo es große Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und keinen adäquaten Zugang zu sozialer Basisinfrastruktur gibt, ist dies der richtige Ansatz.


Fabian Böckler ist Experte für Katastrophenschutz bei der zivilgesellschaftlichen Kinderschutzorganisation Plan International.
fabian.boeckler@plan-international.org

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