Regionale Integration

Boliviens Schlüsselrolle

Die handelspolitische Landkarte Südamerikas ist verwirrend. Zum einen gibt es die UNASUR, welche die bestehenden Bündnisse Mercosur und CAN zusammenführen soll. Zum anderen strebt das Staatenbündnis ALBA Kooperation an mit dem Ziel sozialen Ausgleichs. Bolivien, Venezuela und Ecuador gehören sowohl zu UNASUR als auch zu ALBA. Obendrein gibt es Bestrebungen der USA, mit südamerikanischen Partnern Freihandelszonen zu schaffen. Während das die UNASUR-Mitglieder Peru und Kolumbien positiv bewerten, stellen sich Bolivien und Venezuela ausdrücklich dagegen.


[ Von Marion Hörmann ]

Der Befreiungsheld Simón Bolívar träumte vor 200 Jahren von der kontinentalen Einheit Südamerikas. Politisch konnte er sie nicht verwirklichen, aber seine Vision ist bis heute ein Dauerbrenner in lateinamerikanischen Debatten. Es gibt immer wieder Anläufe zu mehr Kooperation und Integration – und zu Redaktionsschluss diskutierten Staats- und Regierungschefs in Mexiko über eine lateinamerikanische Union. Das Bild der Bündnispolitik wird so noch verwirrender, die Erfolgsaussichten steigen indessen kaum.

Eine wichtige Rolle spielen die USA. Sie haben bereits Freihandelsabkommen mit Mexiko und später auch mit Zentralamerika geschlossen. In Südamerika hat Washington mit ähnlichen Anliegen aber eher Opposition als Zustimmung erfahren. In Abgrenzung zu den panamerikanischen Vorstellungen der USA laufen in Lateinamerika derzeit zwei Integrationsprojekte parallel. Dabei geht es um
– Integration bei gleichzeitiger Sicherung der regionalen Hegemonie von Argentinien und Brasilien, was im Rahmen der UNASUR (Union Südamerikanischer Staaten) geschieht, versus
– Integration im Sinne des „bolivarischen Denkens“ mit der Betonung der öffentlichen Kontrolle von natürlichen Ressourcen und der Sicherung sozialer Gerechtigkeit, wofür ALBA („Bolivarische Allianz unser Amerika“) steht.

Die Diskussion über beide Stränge ist politisch und intellektuell spannend – zumal einige Länder an beiden beteiligt sind. Entsprechend nehmen auch beide Seiten die Banco del Sur in Anspruch – eine regionale Entwick­lungsbank, die ein Gegengewicht zu den gebergeprägten Finanzinstitutionen IWF, Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank bilden soll (siehe Kasten).

UNASUR und ALBA entstanden beide Ende 2004. Ziel der UNASUR ist die Zusammenführung zweier bestehender Wirtschafts- und Handelsbündnisse, und zwar des Mercosur (auf Portugiesisch Mercosul) und der Andinen Nationengemeinschaft (CAN). Im Kern verfolgt UNASUR klassische Handelsintegration. ALBA setzt sich hingegen ausdrücklich von der klassischen Handelspolitik ab. Ziel ist nicht die Ausweitung des Handels um seiner selbst willen, sondern breiter, nachhaltiger Wohlstand und soziale Gerechtigkeit.

Der Mercosur besteht seit 18 Jahren. Die Vereinigung war ursprünglich als gemeinsamer Markt von Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay konzipiert. Sie hat schwierige, aber auch konstruktive Phasen erlebt. Als politisches Bündnis ermöglicht sie zwischenstaatliche Abstimmung, das Zwischenziel einer Zollunion der Mitglieder wurde aber noch nicht erreicht. Klare Fortschritte hat der Mercosur auf Politikfeldern wie Energie, Wissenschaft und Technologie, Soziales und Kultur gemacht.
Die CAN geht auf einen Vertrag von 1969 zurück und hieß bis 1995 Andenpakt. Dem Bündnis gehören heute Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien an. Obwohl es älter ist als Mercosur, hat es sich weniger dynamisch entwickelt. Zeitweilig gehörten auch Chile und Venezuela dem Bündnis an. Beide Länder haben sich dann jedoch dem UNASUR-Prozess angeschlossen.

Bolivien spielt innerhalb der CAN eine führende Rolle und ist – nicht erst im Zuge des UNASUR-Prozesses – auch assoziiertes Mitglied von Mercosur. Das Land profitiert von beiden Bündnissen. Bei CAN überwiegen die wirtschaftlichen Vorteile und bei Mercosur die politischen. Der Rhetorik der bolivianischen Regierung zufolge ist ALBA indessen das wichtigste Bündnis. Bolivien schloss sich ALBA 2006 an, da aber das entsprechende Abkommen nicht vom Parlament ratifiziert wurde, kann es noch zu juristischen Komplikationen kommen.

Alternative „Morgendämmerung“

Ursprünglich bestand ALBA nur aus Kuba und Venezuela. Zunächst stand das erste „A“ nicht für „Allianz“ sondern für „Alternative“. Das Kürzel ALBA ist geschickt gewählt, denn „alba“ bedeutet auf Spanisch Morgendämmerung. Mittlerweile gehören auch Ecuador, Nikaragua und mehrere Karibikinseln dazu.

Betont wurde von Anfang an die Berücksichtigung politischer, sozialer, wirtschaftlicher und juristischer Asymmetrien. Statt Konkurrenz betont ALBA Komplementarität. Entsprechend sollen die jeweils schwächeren Partner – je nach Entwicklungsniveau – Präferenzen genießen. ALBA-typisch ist das Formulieren großer Pläne. Es gibt beispielsweise einen „kontinentalen Plan gegen den Analphabetismus“ und einen „lateinamerikanischen Plan zur kostenlosen Gesundheitsbehandlung derer, die keinen Zugang zu derlei Dienstleistungen haben“.

Auf der ALBA-Tagesordnung stehen außerdem Themen wie
– die Entwicklung von Kommunikation und Transport,
– Normen zum Schutz der Umwelt und dem Umgang mit Ressourcen,
– die Stärkung lateinamerikanischer Investitionen in der Region,
– die Abstimmung mit Blick auf internationale und
multilaterale Politik,
– die Vermeidung von „Konsummustern, die der Lebenswelt der Völker fremd sind“ sowie
– die Verteidigung der lateinamerikanischen, autochthonen und indigenen Kultur.

Viele westliche Beobachter verdächtigen ALBA des kruden Populismus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Venezuelas Präsident Hugo Chávez zu großsprecherischen Schaufensteraktionen neigt. Andererseits spielen Themen wie die Rechte indigener Völker in den Andenländern für das Nationbuilding wirklich eine große Rolle. Evo Morales, dem ersten indigenen Staatschef Boliviens, wird denn auch von Kritikern sein ernsthaftes Anliegen nicht abgesprochen, sein sozial tief gespaltenes Land zu einen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hat er sich nicht nur eine ganze Wahlperiode lang im Amt behauptet, sondern wurde auch triumphal wiedergewählt.

Für die Jahre 2006 bis 2009 ist das Zeugnis für ALBA aus bolivianischer Sicht durchwachsen. Der größte Erfolg wird in der Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Gesundheit gesehen. Venezuela stellte dem ökonomisch viel schwächeren Bolivien für diese Zwecke 130 Millionen Dollar zur Verfügung, von denen 30 Millionen als Spende und 100 Millionen als Kredit deklariert wurden.

Negativ bewertet wird dagegen die Handelsentwick­lung. Zwar legte der bolivianische Außenhandel in der genannten Zeitspanne um 240 Prozent zu, aber der Waren- und Dienstleistungsaustausch Boliviens mit den ALBA-Partnern stagniert. Venezuela ist unter ihnen mit einem Anteil von fast 99 Prozent der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Bolivien exportiert vor allem ölhaltige Rohstoffe nach Venezuela und importiert im Gegenzug Brenn- und Schmierstoffe. Die protektionistische Politik Venezuelas verhindert einen Anstieg des Handels. ALBA hat es Bolivien jedenfalls nicht ermöglicht, in der Industrieentwicklung aufzuholen.

Bolivianische Perspektiven

Bolivien verfolgt seit langem einen regionalen Integrationskurs, was sich in der Mitgliedschaft bei WTO, CAN und UNASUR äußert. Darüber hinaus hat Bolivien Beobachterstatus in Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag zwischen den USA und Kolumbien, Ecuador, Peru. Die EU räumt Bolivien derzeit noch einen – stetig sinkenden – präferentiellen Handelsstatus ein, die USA tun das nicht mehr.

Der Außenhandel hat für die Entwicklungs- und Wachstumsaussichten Boliviens zentralen Stellenwert – allen „alternativen“ Visionen zum Trotz. Bolivien ist auf die Erlöse von Gas- und Bergbauexporten ebenso angewiesen wie auf Heimatüberweisungen von Migranten. Hohe Rohstoffpreise haben in jüngster Zeit den Aufbau von Devisenreserven erlaubt, was aber an den Nachteilen seiner asymmetrischen Einbindung in die Weltwirtschaft nichts ändert. Bolivien führt vor allem Waren mit relativ geringer Wertschöpfung aus und ist der hohen Volatilität der Rohstoffpreise ausgesetzt.

Dass das ALBA-Mitglied Bolivien seine konventionellen Handelsabkommen völlig vernachlässigt, ist unwahrscheinlich. In der CAN hat Bolivien nach dem Austritt Venezuelas sogar eine führende Rolle übernommen und den Zerfall der Organisation verhindert, indem es Verhandlungen mit der EU forcierte. Morales nutzt das Forum CAN, um zum Beispiel gegenüber den USA für wirtschaftliche Abkommen zu werben, die soziale Dimensionen berücksichtigen. Sosehr sich Morales gegen die „Todespolitik“ des Freihandels stemmt, hat er doch klargestellt, dass sein Land CAN-Mitglied bleibt.

Ökonomisch ist für das Binnenland Bolivien die Beziehung zum CAN-Partner Peru besonders wichtig – und zwar sowohl im Blick auf die Infrastruktur als auch auf Investitionen. Freilich liegen die Regierungen beider Länder wirtschaftspolitisch überquer, unter anderem, weil Peru einer Freihandelszone mit den USA zugeneigt ist. Mit Ecuador stimmt Bolivien eher überein, es gibt aber kaum ökonomische Berührungspunkte.

Die Zukunft der regionalen Kooperation und Integration ist in Südamerika noch unbestimmt. Wahrscheinlich werden UNASUR und ALBA in nächster Zeit die dynamischsten Vertragsgemeinschaften sein. ­UNASURs größtes Handicap dürften dabei die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien werden, und bei ALBA bleibt abzuwarten, welche Ankündigen zu implementierter Politik führen. Auf Boliviens Haltung wird es in jedem Fall ankommen, denn das Land gilt traditionell als Mittler zwischen den Andenländern und dem übrigen Südamerika und spielt zugleich sowohl bei UNASUR als auch bei ALBA eine Schlüsselrolle.

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