Hintergrund

„Ein Teil der Warao wird bleiben“

Seit etwa fünf Jahren migrieren immer mehr Menschen aus Venezuela in das Nachbarland Brasilien. Unter ihnen sind zunehmend Angehörige indigener Völker. Der Anthropologe Carlos Cirino Alberto Marinho von der Universität des brasilianischen Bundesstaates Roraima erforscht diese relativ neue Migrationsbewegung.
Angehörige der Warao aus Venezuela in einer Unterkunft im Bundesstaat Roraima im Norden Brasiliens. picture alliance/AP Images |/ Eraldo Peres Angehörige der Warao aus Venezuela in einer Unterkunft im Bundesstaat Roraima im Norden Brasiliens.

Rund 5700 Indigene sind bisher aus Venezuela nach Brasilien geflüchtet. Die meisten davon gehören zur Ethnie der Warao, die traditionell im Regenwald Venezuelas lebt. Warum verlassen die Warao gerade jetzt das Land?
Sie sind Opfer der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela. Ihre Motivation ist also dieselbe wie bei nichtindigenen Migrantinnen und Migranten. Alle berichten von ähnlichen Problemen: Es gibt kaum Arbeitsplätze, die Lebenshaltungskosten sind hoch, und das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Viele fliehen, weil sie hungern. Bei den Warao kommt hinzu, dass die meisten in den vergangenen Jahrzehnten bereits innerhalb von Venezuela vertrieben wurden. Sie leben längst nicht mehr auf ihrem traditionellen Land im Delta des Flusses Orinoko.

Wie läuft die Migration ab?
Die Warao überqueren die Grenze zu Brasilien in der Regel bei der brasilianischen Grenzstadt Pacaraima. Während der Pandemie waren die Grenzen geschlossen, deshalb gingen die Zahlen etwas zurück. Dennoch kamen viele in großen Gruppen mit Schleusern. Seit die Grenzen wieder offen sind, kommen wieder mehr Menschen auf legalem Wege. Oft reisen sie nach Boa Vista, der Hauptstadt des Bundesstaats Roraima, und verteilen sich von dort aus über ganz Brasilien. Wie sie aufgenommen werden, hängt sehr von den einzelnen Bundesstaaten ab. In Roraima und auch im angrenzenden Bundesstaat Amazonas gibt es koordinierte Programme und Flüchtlingscamps, geleitet vom brasilianischen Militär und dem Flüchtlingskommissariat der UN (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR). In anderen Staaten gibt es das nicht, dort müssen Städte und Gemeinden eigene Lösungen finden.

Was unterscheidet indigene von nichtindigenen Migranten?
Es gibt viele kulturelle Unterschiede. Sowohl in Brasilien als auch in Venezuela führt das zu Vorurteilen gegenüber Indigenen – aber umgekehrt auch von Indigenen gegenüber Nichtindigenen. Beide Gruppen sind davon überzeugt, dass die jeweils andere aus Banditen besteht, die sie ausrauben wollen. Das führt dazu, dass sie als zwei ziemlich unabhängige Gruppen migrieren. Sie werden auch in getrennten Flüchtlingscamps untergebracht. Anfängliche Experimente mit gemischten Unterkünften führten zu vielen Konflikten. Auch jetzt noch weigern sich manche Indigene, in den Camps zu leben. Sie bleiben lieber auf der Straße oder besetzen leerstehende Häuser.

Woran liegt das?
Die größte Schwierigkeit ist, dass die Form der Unterbringung in den Camps sich von der traditionellen Lebensform der Indigenen stark unterscheidet. Das hat viele Folgen, insbesondere für die psychische Gesundheit der Menschen. Sie müssen in den Camps in einem umzäunten Gebiet leben und sich an Regeln und Normen halten, die aus ihrer Sicht seltsam sind. Wir drücken sie ihnen auf, aber sie passen nicht zu ihrer Lebensform.

Haben Sie Beispiele dafür?
Ja, beispielsweise beschweren sich viele Indigene über das Essen, das sie in den Camps in Boxen zum Mitnehmen erhalten. Sie sagen, dass sie es nicht gut vertragen. In einigen Fällen haben sie ihre Portionen verkauft und mit dem Geld Nahrungsmittel gekauft, an die sie gewöhnt sind und die sie für gesünder halten. Ein weiteres Beispiel: Die Warao leben und migrieren in Gruppen von 30 bis 40 Personen mit einem Anführer oder einer Anführerin. Diese Verbünde sind ein viel komplexeres Gefüge, als das, was wir klassisch unter Familie verstehen. Unser Konzept von der Kernfamilie greift hier nicht.

Immer wieder machen Nachrichten über die Misshandlung von Indigenen in Flüchtlingsunterkünften die Runde. Sind Ihnen auch Beispiele bekannt?
In einem Flüchtlingscamp in Roraima gab es eine „Ecke der Schande“, in der Indigene gegen ihren Willen festgehalten worden. Diese Vorfälle wurden angezeigt, aber ich habe den Eindruck, dass es daraufhin keine echten Konsequenzen gab.

Gibt es hinsichtlich der Bedürfnisse der Indigenen auch Fortschritte in den Flüchtlingscamps?
Im Großen und Ganzen nicht, aber im Kleinen durchaus. In den Flüchtlingscamps in Roraima haben die Indigenen inzwischen die Möglichkeit, in Gemeinschaftsküchen selbst zu kochen. Man versucht jetzt auch weniger, die Gruppen innerhalb der Camps aufzubrechen und gibt ihnen zumindest einige Möglichkeiten, sich selbst zu verwalten.

Wie steht es um die Integration der indigenen Migranten?
Zum einen ist es für sie selbst eine riesige Herausforderung, sich an die Lebensumstände in Brasilien anzupassen. Zum anderen stellt das auch alle Verantwortlichen vor Herausforderungen. Migranten aus Venezuela werden normalerweise in Kernfamilien in südlichere Regionen Brasiliens gebracht, wo sich ihnen bessere Möglichkeiten bieten, sich zu integrieren. Das funktioniert für die Warao nicht. Man kann nicht einfach für so große Gruppen eine Wohnung in einer Stadt mieten. Es ist auch relativ schwierig, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, weil manche weder Portugiesisch noch Spanisch sprechen.

Welche Schwierigkeiten mit der Integration gibt es auf gesellschaftlicher Ebene?
Es gibt sehr viele Vorurteile und auch Rassismus. Immer wieder wird kritisiert, dass die Migranten Zugang zu öffentlichen Leistungen bekommen, obwohl manche Brasilianer keinen ausreichenden Zugang dazu haben (zur Situation in brasilianischen Armenvierteln siehe den Beitrag von Thuany Rodriguez auf www.dandc.eu). Das öffentliche Gesundheitssystem in Teilen Roraimas ist sehr schlecht, und viele Menschen haben das Gefühl, Venezolaner würden in der Behandlung bevorzugt. Es gibt auch immer wieder Beschwerden darüber, dass die Indigenen auf der Straße um Geld betteln.

Wie haben denn die brasilianischen Indigenen auf die Ankunft der Warao reagiert?
Die Indigenen in Roraima haben sie zunächst nicht als Indigene akzeptiert. Auch die indigene Schutzorganisation Fundação Nacional do Índio (FUNAI) fühlte sich nicht zuständig.

Die brasilianische Verfassung erkennt die Rechte von indigenen Völkern und ihre traditionellen Lebensbedingungen an. Gilt das denn nicht für die Geflüchteten?
Als 2015 die ersten Warao ankamen, gab es eine große Diskussion darüber, ob sie dieselben Rechte erhalten sollten wie brasilianische Indigene. Inzwischen werden sie juristisch genauso behandelt, obwohl sie kein traditionelles Land in Brasilien haben. Das war ein Erfolg. Die Warao haben nun neben dem Recht auf Bildung und Gesundheitsversorgung auch das Recht, dass ihre Traditionen und Kultur geschützt werden. Allerdings zeigt die Altersstruktur in den Unterkünften, dass die meisten indigenen Migranten eher jung sind. Indigene über 50 Jahren migrieren nur sehr selten nach Brasilien. Das hat negative Folgen, denn mit ihnen bleiben oft auch religiöse Führungsfiguren und Wissen in Venezuela zurück.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Arbeit der brasilianischen Politik mit den indigenen Flüchtlingen?
Es fehlen auf Dauer angelegte Pläne. Das sind alles eher Soforthilfeprogramme, direkte humanitäre Hilfe. Es traurig und desillusionierend zu sehen, wie die Menschen darum kämpfen, eine Perspektive fürs Leben zu entwickeln.

Nichtindigene Flüchtlinge aus Venezuela sollen langfristig in den formalen brasilianischen Arbeitsmarkt integriert werden. Was ist die langfristige Vision für Indigene wie die Warao?
Die hat gerade noch keiner. Auf nationaler Ebene versuchen wir Lösungen zu finden, die so wenig traumatisierend wie möglich sind. Mir scheint es besonders wichtig, den Warao zuzuhören. Sie haben ein Recht darauf. Derzeit versuchen sie, einen politischen Verband auf nationaler Ebene zu gründen, um sich besser zu artikulieren. Aber auch die Warao selbst müssen erst noch eine genauere Vorstellung davon entwickeln, wie sie sich ein Leben in Brasilien vorstellen.

Was muss sich politisch ändern, um den indigenen Migranten gerecht zu werden?
Die Behörden und politischen Institutionen müssen verstehen, dass es nicht nur um eine vorübergehende Unterbringung geht. Ein Teil der Warao wird auf jeden Fall bleiben. Die meisten von ihnen wollen nicht zurück nach Venezuela. In meinem wissenschaftlichen Netzwerk betrachten wir ihre Situation deshalb nicht mehr nur als eine Geschichte von Flucht, sondern wir thematisieren immer mehr das Konzept der Diaspora.


Carlos Alberto Marinho Cirino ist Anthropologe an der der Universität des brasilianischen Bundesstaats Roraima. Er forscht seit Jahrzehnten zu Indigenen und ihren Rechten.
carlos.cirino@ufrr.br

Lisa Kuner ist freie Journalistin.

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