Schwerpunkt

Indische Schizophrenie

Die Ressourcen für die Behandlung psychischer Krankheiten in Indien sind be­grenzt; etwa 4000 Psychiater kommen auf mehr als eine Milliarde Menschen. Daher be­schränkt sich dort die Behandlung auf die medikamentöse Bekämpfung der Symptome. Reha­bilitation und psychosoziale Intervention werden oft vernachlässigt und sind kaum erhältlich. Um auch Derartiges anbieten zu können, hat eine Gruppe von psy­chiatrisch tätigen Medizinern, Philanthropen, Familien von Patienten und anderen Interessenvertretern 1984 die Schizophrenia Research Foundation (SCARF) gegründet.


[ Von Rangaswamy Thara und Sujit John ]

Es gibt in Indien keine organisierte Versorgung für schizophrene Patienten in ihrer gewohnten Umgebung. Meistens werden sie in großen psychiatrischen Kliniken behandelt, von der Gesellschaft isoliert. Es gibt aber Bestrebungen, den Zugang zu psychiatrischer Behandlung zu erleichtern – im Rahmen des nationalen Programms für psychiatrische Behandlung sowie auf Distriktebene. Bisher hatten diese Anstrengungen – bis auf wenige Ausnahmen – keinen Erfolg; es haperte an der Koordination, Abstimmung und Planung der verschiedenen Bundesstaaten.

SCARF ist eine nichtstaatliche Organisation (NRO) mit Sitz in Chennai (Madras) zur Erforschung und Behandlung von Schizophrenie. SCARF gibt es seit 1984, ihr Com­mu­nity-Outreach-Programm in Thiruporur begann die Or­ganisation vor fast 15 Jahren. Heute gehören dazu eine ambulante Klinik und drei Häuser mit 150 sta­tio­nären Patienten. Das Einzugsgebiet umfasst 200 Dörfer und fünf städtische Slums – bei einer Bevölkerung von mehr als 400 000 Menschen. Als Rehabilitationszentrum für eingewiesene Patienten finden sich hier hauptsächlich chronische Fälle, Patienten, bei denen die Behandlung nicht anschlägt, und leicht bis schwer Behinderte. Weil das Bewusstsein wächst, wurde das Zentrum in den vergangenen Jahren zunehmend von Neuerkrankten und erst seit kurzem erkrankten Pa­tien­ten genutzt. Für 2009 plant SCARF, die Arbeit durch zusätzliche kommunale Kliniken auf weitere 200 Dörfer mit mehr als 100 000 Menschen auszuweiten.

SCARF arbeitet in den ländlichen Gebieten mit Gras­wurzel-Organisationen zusammen. Die Mitarbei­ter vor Ort sollen so fortgebildet werden, dass sie Men­schen mit psychischen Krankheiten erkennen und in die Kliniken schicken. Zudem soll das Bewusstsein für psychische Krank­heiten in der Bevölkerung unter anderem durch Straßentheater, Folkloretanz und Aufführungen gefördert werden. Zudem lernen die Mitarbeiter, einfache psy­chosoziale Rehabilitationsmaßnah­men durchzu­füh­­ren.

In logischer Ausweitung ihrer Arbeit hat die Orga­ni­sation 2006 ein Telemedizin-Netzwerk geschaf­fen. Der­zeit sind sieben Außenstellen mit der Zentrale bei SCARF in Chennai verbunden. Aus Kosten­gründen wurden güns­tige Technologien wie ISDN zur Verbindung genutzt. Forschung zur Stigmatisierung und Programme zur Verringerung der Stigmatisierung, etwa durch Filmfestivals zum Thema psychische Gesundheit, Studien zu Kindern von Menschen mit Schizophrenie oder gene­ti­sche Studien zu Schizophrenie sind weitere wichtige Arbeitsgebiete, die eine große klinische Rele­vanz haben.

Verbreitung und Häufigkeit

Eine der größten epidemiologischen Studien in Indien war auf diesem Gebiet die „Längsschnittstudie funktionaler Psychosen in einer städtischen Gemeinde“ (SOFPUC) in Chennai, die SCARF und der Fachbereich für Psychiatrie des Madras Medi­cal College (ICMR, 1990) durchführten. Dafür wur­den 100 000 Menschen untersucht. Die alterskorrigierte Verbreitungsrate für Schizophrenie lag bei 3,87/1000. Andere Studien kommen zu einem Ergebnis von 0,7 bis 14,2/1000. Allerdings ist die Vergleichbarkeit der Studien durch Unterschiede in Bevölkerungsgröße, geographische Lage und diagnostische Kriterien sehr beschränkt.

Laut ICMR-SOFPUC-Studie tritt Schizophrenie häufiger in städtischen Slums, bei Alleinlebenden, bei Menschen ohne Schulbildung, in christlichen Gemein­den und bei Arbeitslosen auf. Männer waren ebenfalls häufiger betroffen als Frauen.

Der Mangel an Untersuchungen zur Verbreitung von Schizophrenie in Indien lässt sich wohl dadurch erklären, dass es keine abgegrenzten Einzugsbereiche für Gesundheitsdienste sowie keine Fallregister gibt, aber auch durch die Kosten, die Erhebungen verursachen.

Verlauf und Ausgang

Es gab bisher nicht viele methodisch ausgereifte, prospektive Verlaufsuntersuchungen über Schizophrenie in Indien. In einem Land wie diesem ist es nicht leicht, Patienten nachträglich zu untersuchen, da es kein Melderegister, kein Fallregister und keine zentrale Adressdatenbasis gibt, über die man an sie herantreten könnte – es sei denn, der Patient oder seine Familie halten Kontakt zu einer medizinischen Einrichtung.

Unter diesen Bedingungen hat SCARF erfolgreich eine Verlaufsstudie bei Erstepisode-Schizophrenie-Patienten über 20 Jahre durchgeführt – eine der we­ni­gen Langzeit-Verlaufsstudien aus der Dritten Welt. Es wurde der Krankheitsverlauf bei 90 Ersterkrankten haupt­säch­lich aus dem städ­ti­schen Milieu untersucht.

Nach 20 Jahren war der Verlauf bei den unter­suchten Patienten folgendermaßen:
- Bei rund 8 Prozent war die Krankheit vollständig zurückgegangen,
- 39 Prozent hatten Rückfälle, die zwischen den Episoden vollständig zurück gingen,
- 44 Prozent hatten Rückfälle mit teilweisem Rückgang zwischen den Episoden und
- 8 Prozent waren kontinuierlich krank.

Die Sterblichkeitsrate war relativ hoch. Das durchschnittliche Todesalter lag bei 34,2 Jahren und damit weit unter der landesweiten Lebenserwartung von 60,5 Jahren im Jahr 2002. Sieben der 16 Todesfälle waren auf Selbstmord zurückzuführen.

Ein signifikantes Ergebnis der Studie betraf die berufliche Situation der untersuchten Gruppe: Fast zwei Drittel der Erkrankten arbeiteten nach 20 Jahren mit minimalen bis gar keinen Störungen am Arbeitsplatz.

Die Mehrheit gehörte zur Gruppe mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, die keine Probleme hatten, Arbeit im informellen Sektor zu finden – als Straßenverkäufer, Verkäufer in Läden oder Haushaltshilfen. Das Fehlen staatlicher Sozialhilfe und der Druck, als Hauptverdiener arbeiten zu müssen, trugen deutlich dazu bei, dass so viele Patienten beruflich „funktionierten“.

Nie behandelte Schizophrenie

Erschreckend an der ICMR/SOFPUC-Studie war die Erkenntnis, dass ein Drittel der Gruppe niemals medizinisch behandelt worden war – obwohl es in der Nähe psychiatrische Einrichtungen gab. Die nicht behandelten Patienten waren älter, hatten eine längere Krankheitsgeschichte, hatten mehr Symptome und waren schwerer behindert als diejenigen, die in Behandlung waren. Sie waren außerdem tendenziell ungebildet, geschieden und lebten in größeren Großfamilien oder Familienverbänden.

Das Leben in einer Großfamilie erwies sich als ausschlaggebender Faktor dafür, dass Schizophrenie-Kranke unbehandelt blieben. Dem Familienverband werden oft therapeutische Qualitäten zugeschrieben, da Umsorgung und Schutz der Patienten die Folgen der Krankheit in Grenzen halten. Aber das hat auch eine Kehrseite: Eine große Familie mit vielen möglichen Betreuungspersonen und Verdienern kann ausgleichen, was die kranke Person nicht beiträgt und sie zudem ohne medizinische Behandlung versorgen, da sich die Familie Last und Verantwortung teilt.

Andere SCARF-Studien zeigten, dass ein Teil der Schizophrenen aus sozialen, nicht aus klinischen Gründen unbehandelt blieben: Die versorgenden Familien waren gegen eine Behandlung. Besonders häufig zeigte sich das in kleinen ländlichen Dörfern. Die Familien hatten sich mit dem Zustand des nicht behandelten Kranken arrangiert und zögerten, sich auf eine Therapie einzulassen, die diesen Zustand „aus dem Gleichgewicht bringen könnte“.

Eine andere, 2006 veröffentlichte Studie beschreibt die Symptome von 143 nie behandelten Schizophrenie-Kranken. Die durchschnittliche Dauer der unbehan­del­ten Krankheit lag bei 10,7 Jahren, durchschnittlich brach die Krankheit im Alter von 36,2 Jahren aus. Fast die Hälfte der untersuchten Gruppe litt unter Wahnvorstellungen, Verfolgungsangst, Halluzi­na­tio­nen und Denkstörungen und war äußerst misstrauisch. Das weist darauf hin, dass Schizophrenie auch nach vielen Jahren aktiv bleibt. Die Analyse zeigte zudem, dass positive und negative Symp­tome nicht voneinander unabhängig sind, sondern zwei verschiedene Enden eines Kontinuums darstellen.

Ein wichtiges Ergebnis der Studie war die Iden­ti­fi­zie­rung einer spezifischen Anhäufung motorischer Symp­tome, darunter eigenartige Angewohnheiten und abnorme Körperhaltung, motorische Verlangsamung, mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Aufmerksamkeitsdefizite.

In einer Reihe von Untersuchungen über unbehandelte Schizophreniepatienten, die SCARF gemeinsam mit Robin McCreadie veröffentlichte, zeigte sich, dass chronisch Kranke häufig an spontaner Dyskinesie (unwillkürliche Bewegungen), sowie an Par­kin­son lit­ten. Die Dyskinesie verlief schwankend und schien ein integraler Bestandteil des Krankheitsverlaufs zu sein.

Es zeigte sich auch, dass spontane Dyskinesie und Parkinson nicht durch Alterung oder einen chroni­schen Verlauf der Krankheit beeinflusst werden. Zu­dem unterscheiden sich die extrapyramidalen Symp­tome – wie Akinese (Bewegungslosigkeit), Muskel­steifheit und Zittern – als Nebenwirkungen der Behandlung bei zuvor unbehandelten Pa­tien­ten und bereits medikamentös be­han­delten Kran­ken. Eine Mag­­netreso­nanz­tomo­graphie-Studie verdeutlichte auch, dass un­be­han­delte Pa­tien­ten mit Dyski­nesie eine Unter­gruppe der Schizo­phre­nie-Patienten dar­stellen könn­ten. Dies legt nahe, dass der Krankheitsverlauf die nor­malen alters­be­dingten Verän­de­run­gen der Basalganglien beeinflusst.

Erklärungsansätze

Im ländlichen Bundesstaat Tamil Nadu wurden für Besessenheit, Halluzinationen, respektlose Ausdrucksweise und seltsames Verhalten – also charakteristische Symp­tome von Schizophrenie (Thara et al, 1998) – Geister, Hexerei und Zauber verantwortlich gemacht. Das hat zur Folge, dass häufig zunächst religiöse Hilfe gesucht wird, insbesondere da das Verhalten auch sozial sanktioniert wird. Dabei halten die meisten Familien im städtischen Raum, die mit Betroffenen zusammenleben, nur selten übernatürliche Kräfte für die Ursache der Kran­k­heit. Eine Untersuchung der Versorgungswege psychischer Krankheiten am SCARF-Zentrum in Chennai und seinen Outreach-Zentren in den Dörfern bestä­tigte das.

Bei 65 Prozent der Patienten war der erste Behandlungsversuch magisch-reli­giö­ser Art – wobei 80 Prozent der Patienten auf dem Land diese Option wählten, auf dem Land nur 50 Prozent. Dass sich überhaupt so viele an religiöse Wunderheiler wandten, wurde hauptsächlich dem so­zialen Druck zugeschrieben, dem die Familien durch Verwandte, Freunde und Nachbarn ausgesetzt waren – sogar wenn die Familie die Methode selbst nicht gewählt hätte. Im Durchschnitt dauerte es 21 Monate, bis die Patienten aus dem städtischen Raum angemessene psychiatrische Hilfe erhielten. Bei Patienten aus den Dörfern vergingen im Schnitt fast 26 Monate, bis sie an ein für psychische Probleme spezialisiertes Gesundheitszentrum kamen.

Die Herausforderung, Schizophrenie zu behandeln und zu erforschen, kann nicht von allein einer oder zwei Organisationen bewältigt werden. Nötig ist ein landesweites, multiprofessionelles und breit angelegtes Programm der indischen Regie­rung in Partnerschaft mit privaten Orga­nisationen. Die Versorgung in den Gemein­den muss ausgeweitet und verbessert wer­den, um die Millionen Menschen zu er­reichen, denen Behandlung und Reha­bilitation bisher versagt bleiben.

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