Kambodscha

Vergangenheit bewältigen

Junge Kambodschaner haben die Terrorherrschaft der Roten Khmer selbst nicht mehr erlebt. Doch die Traumata der Vergangenheit sitzen noch tief in der Gesellschaft und prägen auch die Heranwachsenden.
Dokumentation im Genozidmuseum Tuol Sleng in Phnom Penh. Pixal/Imagebroker/Lineair Dokumentation im Genozidmuseum Tuol Sleng in Phnom Penh.

Sun Py war neun Jahre alt, als er 1976 während der Herrschaft der Roten Khmer von seinen Eltern und drei Geschwistern getrennt wurde. Er überlebte das Terrorregime, doch die Trennung von seiner Familie und die Ungewissheit über ihr Schicksal belasteten ihn schwer. 34 Jahre später fand er die Ver­lorenen mit Hilfe einer Fernsehsendung wieder. Vor laufender Kamera schloss er seine Mutter erstmals wieder in die Arme und brach in Tränen aus.

Ein Jahr später interviewten ihn Ly You Y und Lay Rattana für ihren Dokumentarfilm „Finding Lost Ones“. „Ich fühle mich jetzt gesund, physisch und psychisch“, sagte ihnen Sun Py. „Ich kenne jetzt meine Identität.“ Seine Mutter, die ihren Sohn tot geglaubt hatte, beschrieb ihre Erleichterung so: „Ich fühle mich, als wäre ich von all meinen Krankheiten geheilt.“

Ly You Y ist eine der beiden Filmemacherinnen, die Sun Py zur Hauptperson ihres Films gemacht haben. Sie ist 22 Jahre alt. Das entspricht dem Durchschnittsalter in Kambodscha. Wie mehr als 60 Prozent ihrer Landsleute hat sie die Diktatur Pol Pots von 1975 bis 1979 nicht erlebt. Trotzdem ist sie auf sehr persönliche Weise davon betroffen: „Meine Mutter hat drei ihrer sechs Geschwister in der Zeit verloren“, erzählt die junge Frau. Sie hat ihren Film 2011 als Studentin am Department of Media and Communication (DMC) der Royal University of Phnom Penh mit Unterstützung des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) der GIZ produziert.

Die Filmemacherin selbst hatte allerdings weniger Glück als ihre Hauptperson. Ihre Verwandten bleiben vermisst: „Wir haben lange alles versucht, um sie zu finden. Aber jetzt haben wir die Hoffnung aufgegeben.“ Hunderttausende Menschen sind noch immer verschwunden. Der kambodschanische Fernsehsender Bayon hat nach eigenen Angaben täglich mindestens 20 Vermisstenanfragen für seine Sendung „It‘s not a Dream“, dank der Sun Py seine Familie gefunden hat.

 

Jahre des Terrors

Doch die meisten suchen vergeblich. Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen sind den Roten Khmer zum Opfer gefallen. Das war ungefähr ein Fünftel der damaligen Bevölkerung. Männer, Frauen und Kinder verloren ihr Leben auf den „Killing Fields“ oder auf Todesmärschen am Straßenrand. Andere verhungerten oder starben bei der Zwangsarbeit, an unbehandelten Krankheiten und den Folgen von Folter. Kinder erlebten den Tod ihrer Eltern, Frauen und Männer wurden Zeugen davon, wie ihre Partner sich in Mörder verwandelten. Alle kämpften nur um das eigene Überleben, das Menschliche schwand aus der Gesellschaft.

Jede Familie in Kambodscha war von dem Massenmord am eigenen Volk betroffen – als Opfer, als Täter und häufig beides zusammen. Wer sich den Befehlen widersetzte, bezahlte selbst mit dem Leben. So sehen sich viele, die zu Mördern wurden, als Opfer, die gegen ihren Willen handelten. Die Folgen sind Schuldgefühle und Scham – und eine weit verbreitete Unfähigkeit, über die Erlebnisse zu sprechen. Auch zahlreiche Rote Khmer hatten selbst Tote in der Familie zu beklagen.

Die Menschen erlebten unter Pol Pot eine kollektive Traumatisierung, die sich auch auf die folgenden Generationen übertrug. „Schwer belastete Eltern können ihren Kindern oft keinen Halt geben“, erklärt die Traumaberaterin Heidrun Ziegler, die von 2002 bis 2006 als Fachkraft des ZFD in Kambodscha gearbeitet hat. „Selbst wenn die Erwachsenen im nahen sozialen Umfeld ihre Gefühle kontrollieren, nehmen Kinder den Druck wahr, unter dem die Angehörigen stehen. Das kann so weit gehen, dass ein Kind dieselben Gefühle hat wie die schwer traumatisierte Mutter, sich aber nicht erklären kann, woher sie kommen.“


Psychische Störungen

Laut einer Studie, dem Cambodian Mental Health Survey von 2012, der mit finanzieller Unterstützung der GIZ am Fachbereich Psychologie der Royal University of Phnom Penh entstand, berichten über 30 Prozent der befragten Frauen und fast 20 Prozent der Männer über Angststörungen. 20 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer sind von Depressionen betroffen. Symptome, die zu posttraumatischen Belastungsstörungen passen, weisen über drei Prozent der Frauen und 1,6 Prozent der Männer auf. Die Selbstmordrate in Kambodscha ist die höchste in Südostasien.

An der Universität arbeiten Psychologen an einem Screening-Instrument, um Stressfaktoren bei Jugendlichen zu erkennen. Die Methode muss zur Kultur passen. „Unsere westlichen Fragen, mit denen wir normalerweise seelische Störungen ermitteln, treffen nicht unbedingt das Erleben der Menschen in Kambo­dscha“, erklärt die Schweizerin Elizabeth Högger-Klaus, die zum Team gehört.

Seit 2008 bietet die Universität einen Masterkurs in Psychologie an. Er wird jetzt neu auf Familientherapie ausgerichtet. „Wir wollen Kindern und Jugendlichen als wichtiger Zielgruppe der sogenannten zweiten Generation nach der Roten-Khmer-Zeit besser gerecht werden, indem wir das ganze System einbeziehen, in dem sie leben: die Familie, ihre Freunde, die Schule“, sagt Högger-Klaus.

Sie berichtet, dass seelische Störungen nicht allein auf die Terrorherrschaft zurückzuführen seien. Auch die Armut, häusliche Gewalt und fehlende Rechtssicherheit spielten eine wichtige Rolle. Das Problem ist aus ihrer Sicht nicht nur das kollektive Trauma, sondern auch seine kulturelle  und religiöse Einbettung (siehe Link "Hintergrund-Informationen" im Seitenbalken).

Die Tatsache, dass ehemalige Rote Khmer heute das Land regieren, behindert die Aufarbeitung ebenfalls. Sie sind Minister, Provinz-Gouverneure oder Dorfchefs. Selbst Ministerpräsident Hun Sen war ein Roter Khmer und zeigt kein Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit.

Einer von internationaler Seite seit Jahrzehnten geforderten juristischen Aufarbeitung konnte sich Hun Sen auf Dauer aber nicht widersetzen: Nach langen Verhandlungen mit den Vereinten Nationen nahm das Rote-Khmer-Tribunal 2006 seine Arbeit auf. Aufgabe der Sonderkammer, an der kambodschanische und internationale Juristen zusammenarbeiten, ist es, die Hauptverantwortlichen der Roten Khmer zur Rechenschaft zu ziehen. Viele Opfer sind jedoch von dem Gericht enttäuscht, da es bislang erst einen Täter verurteilt hat.

Immerhin hat das Gericht die Vergangenheit zum Thema gemacht. Nationale und internationale Medien berichten über die Prozesse. Tausende Opfer sind in Form ziviler Nebenkläger an den Verfahren beteiligt, und zahlreiche nichtstaatliche Organisationen (NGOs) arbeiten in ihrem Umfeld.


Dorfarbeit

Kdei Karuna ist solch eine Initiative. Mit ihrem „Justice and History Outreach Program“ will diese Partnerorganisation des ZFD die Kommunikation innerhalb von Dörfern und Gemeinden über die Vergangenheit fördern – auch zwischen Eltern und Kindern. In Workshops werden die speziellen Bedingungen und Bedürfnisse der Gemeinschaft ermittelt, und es werden lokale Moderatoren in Konfliktbearbeitung und Dialogförderung geschult, die solche Prozesse begleiten.

Manchmal setzen sich die Dorfältesten mit Jugendlichen zusammen und erzählen ihnen, was sie unter den Roten Khmer erlebt haben. Manchmal drücken sie Erfahrungen auch zunächst in Kunstwerken aus. Anhand deren fällt es ihnen dann meist leichter, darüber zu reden. Oder das Thema wird mit einem Film über die Erfahrungen von Überlebenden eingeführt.

Die in den Dörfern ins Rollen gebrachte Kommunikation führte laut Kdei-Karuna-Chef Tim Minea, einem kambodschanischen Soziologen, zum Beispiel dazu, dass erstmals öffentlich die Schauplätze der Verbrechen identifiziert wurden. „Die jungen Leute sind überrascht und manchmal schockiert, wenn sie erfahren, welcher Ort in ihrem Dorf als Gefängnis diente oder dass an einem bestimmten Platz Hunderte Menschen umgebracht wurden“, berichtet er. So wachse das Verständnis füreinander und für die Ereignisse der Vergangenheit. Kommunikation untereinander helfe, die Traumata zu bearbeiten, und ermögliche Versöhnung innerhalb der Gemeinschaft. In Zukunft will die NGO auch Online-Medien wie Facebook, Blogs und Diskussionsforen nutzen, um den Austausch über die Vergangenheit in der jungen Generation zu fördern.

Die neuen Medien halten auch in der Medien-Management-Ausbildung an der Uni Einzug. Seit dem Wintersemester 2006/2007 macht jeder Studenten-Jahrgang unter Anleitung einer Friedensfachkraft kurze Dokumentarfilme über Rote-Khmer-Themen. Häufig entstehen die Filme in Dörfern fernab der Hauptstadt. Überlebende, Opfer wie Täter, erzählen darin ihre Geschichten. Die fertigen Dokumentationen werden später wieder in den Dörfern gezeigt und regen so zu Diskussionen unter den Betroffenen an. Um eine breite Öffentlichkeit und viele junge Menschen zu erreichen, werden die Filme auch im Internet veröffentlicht – zum Beispiel auf Youtube.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit  bleibt aber mühsam. Spontan schrecken die meisten davor zurück. André Hartlapp betreut das Medien­projekt seit 2012 und sagt: „Wenn die Studenten frei wählen können, setzen sie sich lieber kritisch mit der Gegenwart, mit Jugendkultur oder Themen wie Liebe und Beziehung aus­einander.“
 
Ly You Y, für die die Arbeit am Filmprojekt „Finding Lost Ones“ eine sehr emotionale Erfahrung war, findet es wichtig, dass junge Leute sich der Vergangenheit ihres Landes stellen. Viele wüssten aber noch immer nicht ausreichend darüber Bescheid. „Viele politische und soziale Probleme in unserer Gesellschaft haben ihre Ursache in der Roten-Khmer-Zeit“, sagt Ly You Y, die seit ihrem Studienabschluss mit Hartlapp zusammenarbeitet.

Ihrer Meinung nach sollte diese Auseinandersetzung unbedingt mit einem Fokus auf die Zukunft geschehen. Das mag sie an ihrer eigenen Dokumentation besonders: „Es ist ein positiver Film. Er kann anderen Menschen, die Angehörige vermissen, Hoffnung geben.“

 

Der Zivile Friedensdienst

Um Gewaltkonflikten vorzubeugen sowie schwelende Krisen einzudämmen und zu beenden, entsenden deutsche Friedens- und Entwicklungsorgani­sationen seit 1999 Fachkräfte in betroffene Länder. Sie arbeiten mit lokalen Partnern an Krisenprävention, Konfliktschlichtung und, wenn das Schlimmste ausge­standen ist, daran, friedensfördernde Strukturen aufzubauen. Entsendet werden die Fachkräfte von staatlichen und nichtstaat­lichen Organisationen. Diese haben sich im Konsortium Ziviler Friedensdienst zusammen­geschlossen, das vom ZFD-Sekretariat bei ENGAGEMENT GLOBAL beraten und administrativ unterstützt wird.

 

Katja Dombrowski lebt als freie Journalistin in Bangkok und war 2005 acht Monate lang  für den GIZ-Vorgänger DED als Fachkraft des Zivilen Friedensdienstes am Department of Media and Communication (DMC) der Royal University of Phnom Penh tätig.
kd@katja-dombrowski.info

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