Weltpolitik

„Wichtige Menschheitsanliegen“

Die Millenniumsentwicklungsziele, so scheint es der breiten Öffentlichkeit, betreffen Afrika, Asien und Lateinamerika. Jens Martens vom Global Policy Forum fordert dagegen präzise Ziele für die gesamte Weltpolitik auch mit Blick auf Abrüstung oder den Klimawandel. Das Global Policy Forum hat kürzlich zusammen mit Verbündeten wie dem Third World Network, Social Watch und der Friedrich-Ebert-Stiftung die „Reflection Group on Global Development Perspectives“ ins Leben gerufen. Sie soll die Diskussion über Entwicklungsparadigmen vorantreiben.

[ Interview mit Jens Martens ]

Hängt Erfolg bei der Armutsbekämpfung nicht vor allem von Wirtschaftswachstum ab?
Wirtschaftswachstum ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für erfolgreiche Armutsbekämpfung. Häufig profitieren nur wenige vom Wirtschaftswachstum und nicht die Mehrheit.

Reicht es, Armut mit Sozialpolitik zu bekämpfen, oder ist Wachstum nötig?
Beides ist wichtig. Dass die nötigen Mittel zur Armutsbekämpfung zur Verfügung stehen, hängt vom Wachstum und der Situation der öffentlichen Haushalte ab. Es ist nötig, eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu betreiben. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass Armutsbekämpfung und die Verwirklichung der MDGs nur Sache der Sozialpolitik sind. Armutsbekämpfung ist in erheblichem Maße auch eine Frage von Beschäftigungs-, Industrie- und Wirtschaftspolitik. Das wird zu oft außer Acht gelassen.

Die MDG-Agenda geht auch nicht auf Entwick­lungsvoraussetzungen wie Frieden und Demo­kratie ein.
Das stimmt nicht ganz. Die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen vom Jahr 2000 behandelt diese Fragen durchaus. Es wäre wünschenswert gewesen, zu den Themen Frieden, Demokratie, Abrüstung und Sicherheit auch quantitative Ziele zu verabschieden. Das ist leider nicht gelungen, es gab keinen Konsens. Spannend ist dabei, dass diese Fragen nicht nur die Länder des Südens angehen. Abrüstungsziele beträfen ja vor allem die größten Militärmächte. Möglicherweise war das der Grund, dass es keine Einigung gab.

Woran denken Sie, wenn Sie reichen Ländern mangelnde Friedfertigkeit vorwerfen?
Die Themen Frieden und Sicherheit betreffen in erster Linie die Abrüstung. Es ist ein Skandal, dass die reichen Länder jährlich hunderte Milliarden Dollar in Rüs­tung stecken und nicht bereit sind, diese Ausgaben zu reduzieren. Die weltweite Hochrüstung ist ein Risiko für den Frieden und verbraucht Ressourcen, die für bessere Zwecke verwendet werden könnten – zum Beispiel für die Verwirklichung der MDGs.

Die größten Defizite finden sich bei MDG 7, der nachhaltigen, umweltverträglichen Wirtschaftsweise, und MDG 8, der entwicklungsfreundlichen Weltordnung. Hätten quantitative Vorgaben geholfen?
Die Kluft ist offensichtlich. MDG 1 bis 6 sind klar und messbar formuliert, aber MDG 7 und 8, die auch für die Länder des Nordens gelten, bleiben schwammig. Die EU hat nachgebessert, indem sie 2005 einen Stufenplan zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe – kurz ODA genannt – verabschiedete. Quantitative Vorgaben stärken die Rechenschaftspflicht. Das allein reicht aber auch nicht, um Ziele zu erreichen. Das deutlichste Beispiel ist die Bundesregierung, die derzeit bekanntlich den europäischen ODA-Stufenplan nicht erfüllt.

EU-Vertreter würden wahrscheinlich sagen, dass sie handelspolitisch gern mehr tun würden, aber die Entwicklungsländer bei den Verhandlungen über die EPAs, die Economic Partnership Agreements, nicht richtig mitziehen.
Die Partner der EPA-Verhandlungen sehen das genau umgekehrt. Aus ihrer Sicht sollten sich faire Handelsbedingungen am Entwicklungsstand der jeweiligen Länder orientieren. Stattdessen drängt die EU die Länder des Südens, ihre Märkte zu öffnen. Das nützt vor allem der Wirtschaft des Nordens. Wir haben es immer noch mit einem Handelssystem zu tun, das nicht den Interessen sich entwickelnder Länder dient. Deshalb gibt es in diesem Bereich keine Fortschritte.

In welchem Maß hat uns die globale Wirtschafts- und Finanzkrise zurückgeworfen?
An verschiedenen Indikatoren und in Bereichen wie Bildung und Gesundheit sehen wir große Rückschläge. Die Zahl der Hungernden beispielsweise ist zwischenzeitlich auf über eine Milliarde gestiegen. Laut Weltbank werden 2015 über 250 Millionen Menschen mehr in extremer Armut leben, als es ohne die Krise der Fall gewesen wäre. Dabei ist die Krise in ihrer gesamten Tragweite bisher noch gar nicht sichtbar. Die Regierungen vieler Entwicklungsländer sind gezwungen, ihre Haushalte zu kürzen und die Ausgaben für Bildung und Gesundheit zu reduzieren. Das ist natürlich kontraproduktiv für die Verwirklichung der MDGs.

Könnte die globale Krise als Chance genutzt werden?
Ja, wenn wir die Konsequenzen aus der Krise zögen und umdächten. Wir müssen das internationale Finanzsystem und die Schattenfinanzzentren effektiv regulieren. Es dürfen nicht weiterhin hunderte Milliarden Dollar in Steueroasen fließen. Wäre dem nicht so, hätten die Länder des Südens mehr Mittel zur Verfügung. Die G20 ließ aber die Chance, daran etwas zu ändern, bislang ungenutzt.

Wie sehen Sie die Rolle der großen Schwellenländer? Sollten sich große und wirtschaftlich potente Länder wie Indien oder Brasilien nicht selbst um ihre Sozialpolitik kümmern?
Brasilien betreibt eine gezielte Sozialpolitik mit sichtbarem Erfolg. Die Armut im Land ist stark zurückgegangen. Auch in China sinkt der Anteil der extrem armen Menschen. Das heißt aber nicht, dass dort nichts zu tun wäre. Mit dem wirtschaftlichen Wachstum vergrößert sich in China auch die Ungleichheit. Die gilt es zu überwinden.

Welche Perspektive sehen Sie für die MDGs nach 2015, die bis dahin ja nicht erreicht werden?
Grundsätzlich gibt es drei Optionen, wie es nach 2015 weitergehen kann:
– Erstens: Die Ziele werden beibehalten und um ein paar Indikatoren ergänzt. „Die Zukunft der MDGs sind die MDGs“, hat Evelyn Herfkens, die ehemalige UN-Koordinatorin der MDG-Kampagne, kürzlich gesagt. In der Tat sollte das Nichterfüllen eines Ziels nicht dazu führen, dass man es aufgibt. Aber es reicht aus meiner Sicht nicht, die MDGs einfach für die nächsten 15 Jahre fortzuschreiben.
– Zweitens: Die alten Ziele werden mit neuen verbunden. Das würde die weißen Flecken auf der MDG-Liste ausfüllen, zum Beispiel die Bereiche soziale Grundsicherung, Bildung, Umweltschutz und die Verantwortung der Länder des Nordens. Aber auch das würde nicht ausreichen.
– Drittens: Die Weltgemeinschaft setzt sich grundsätzlich mit den Entwicklungskonzepten auseinander, die derzeit die Politik bestimmen, und formuliert neue Ziele, um die essentiellen Menschheitsprobleme zu lösen. Wir brauchen globale Entwicklungsziele, die für Nord und Süd gleichermaßen gelten, aber an die jeweilige Entwicklungssituation einzelner Länder angepasst sind. Es geht also um eine Kombination aus global vereinbarten, aber regional und national angepassten Zielen, die weit über die jetzigen MDGs hinausreichen.

Eine Rückfrage zu Punkt zwei: Was meinen Sie mit „sozialer Grundsicherung“ und „Bildung“?
Bei sozialer Grundsicherung beziehe ich mich auf das ILO-Konzept des „Global Social Protection Floors“ mit seinen vier Grundpfeilern von kostengünstiger öffentlicher Gesundheitsversorgung, garantierten Mindesteinkommen für Kinder, existenzsichernden Grundrenten für alte und behinderte Menschen sowie garantierter Arbeitslosenversicherung. All das könnte als Unterziel in MDG1 einfließen. Bei Bildung denke ich an die ­UNESCO-Kampagne „Bildung für alle“. Sie formuliert sechs Ziele, die von der Vorschule bis zur Erwachsenenbildung alle Bereiche des Lernens umfassen. Das MDG 2 zielt nur auf die Grundschulen ab. Prinzipiell ist das alles nichts Neues, es würden nur Dinge aufgegriffen, wie sie die ILO oder die UNESCO ohnehin schon anstreben ...

... was Ihnen aber nicht reicht. Warum meinen Sie, dass wir grundsätzlich neue Ziele brauchen?
Ich denke zum Beispiel an den Klimaschutz. Der Verlauf der Klimaverhandlungen zeigt, wie schwer eine Einigung zu erreichen ist. Es ist aber ein Thema von zentraler Bedeutung und zeigt, wie anachronistisch inzwischen die Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Industrieländern ist. Es ist ja nicht so, dass nur in den Entwicklungsländern etwas geschehen muss. Im Gegenteil. Die reichen Länder schaden dem Klima, und zwar zu Lasten aller und dabei besonders der armen und deshalb besonders schutzlosen Menschen.

Vermutlich wäre es mehr wert als die gesamte MDG-Agenda, wenn die Staatengemeinschaft sich endlich verbindlich darauf einigen würde, die globalen Durchschnittstemperaturen nicht um mehr als zwei Grad steigen zu lassen.
Ich finde, das muss Teil der MDGs sein. MDG 7 spricht den Klimaschutz sogar an, gibt aber keine Zahl vor. Genau darum geht es aber. Wir brauchen Ziele für wichtige Menschheitsanliegen, auf die sich die Staatengemeinschaft einigt und die dann weltweit gelten.

Bisher sieht die breite Öffentlichkeit die MDGs als Thema für Asien, Afrika und Lateinamerika, aber nicht unbedingt als etwas mit weltweiten Konsequenzen.
Was das angeht, gab es sogar eher Rückschritte: In den 90er Jahren dominierte im Entwicklungsdiskurs ein breiteres Verständnis von Entwicklung. Hierzulande wurde zum Beispiel darüber diskutiert, wie ein „zukunftsfähiges“ Deutschland aussehen müsste. Mit den MDGs haben wir eine Engführung der entwicklungspolitischen Diskussion erlebt. Wichtig wäre, sich auf das ganzheitliche Verständnis zurückzubesinnen. Die Rio+20-Konferenz im Jahr 2012 bietet eine gute Gelegenheit, umfassenderen Entwicklungskonzepten Geltung zu verschaffen.

Wie wollen Sie die Zeit bis dahin nutzen?
Wir haben gerade eine Reflection Group on Global Development Perspectives ins Leben gerufen. „Wir“ bezeichnet dabei nicht nur das Global Policy Forum, sondern ein internationales Bündnis von Partnern, darunter das Third World Network, Social Watch, die Fried­rich-Ebert-Stiftung, terre des hommes und die Dag-Hammarskjöld-Stiftung. Die Reflection Group wird sich mit ähnlichen Fragen wie in diesem Interview auseinandersetzen und Vorschläge entwickeln, wie etwa eine Post-MDG-Agenda und innovative Konzepte von Wohlstand (well-being) und gesellschaftlichem Fortschritt aussehen könnten. Wir wollen zur Rio+20-Konferenz einen Bericht vorlegen, um damit auch eine Brücke zwischen dem MDG-Prozess und dem Nachhaltigkeitsdiskurs zu schlagen.

Die Fragen stellten Hans Dembowski und Cathrine Schweikardt.

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