Interview mit Jochen Hippler

„Sharia bedeutet in Pakistan vielerlei“

US-Präsident Barack Obama hat im vergangenen Monat eingestanden, dass die westlichen Truppen nicht dabei seien, den Krieg in Afghanistan zu gewinnen. Es werde wohl nötig sein, mit den gemäßigten Taliban zu verhandeln. Außerdem sei Pakistan ein wichtiger Faktor. Derweil gewinnen die Taliban auch dort an Boden. Im Swat Valley ließ sich die Regierung darauf ein, das islamische Recht der Sharia einzuführen, um die Fundamentalisten zufrieden zu stellen und Gewalt zu vermeiden. Andererseits setzte kurze Zeit später eine Massenbewegung die Stärkung des Supreme Court als letztinstanzlichem Verfassungsgericht durch. Der Pakistanexperte Jochen Hippler erklärt die komplizierte Lage im Interview.

Wie können westliche Politiker gute Fundamentalisten von bösen unterscheiden?
Ich warne davor, in einem so komplexen Land wie Pakistan die Menschen in gut oder schlecht einzuteilen. Es gibt im säkularen ebenso wie im religiösen Lager korrupte, gewaltbereite Fraktionen. Zugleich gibt es in den verschiedenen Lagern Leute, die rechtsstaatliche Dinge ernst nehmen. Darum hat die Frage: „Wer sind die Guten, wer sind die Schlechten, wer sind die Gemäßigten?“ mit der Realität nicht viel zu tun. Natürlich gibt es fanatische und religiöse Kräfte. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Warum nicht?
Die Tribal Areas sind ein gutes Beispiel dafür, dass es sinnlos ist, mit den „Gemäßigten“ reden zu wollen – man muss mit denen reden, die da sind. Die meisten Menschen dort beziehen sich auf ihre Stämme, und ihre politische Haltung hängt davon ab, was gerade passt. Sie sind bereit, mit den extremen talibanischen Kernleuten zusammenzuarbeiten, wenn es nützt. Sie haben aber auch kein Problem, mit Militärs oder dem Staat zu kooperieren. Sie sind weder gemäßigt noch radikal, sondern handeln opportunistisch oder, freundlicher gesagt, pragmatisch. Sie sind auf ihre Autonomie bedacht.

Ist es denn richtig, die Sharia zu akzeptieren, um in einer bestimmten Gegend den Frieden zu bewahren?
Seit den 90er Jahren hat das pakistanische Parlament die Sharia bereits mehrfach eingeführt – auch mit Zustimmung der säkularen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto. Das Wort Sharia bedeutet in Pakistan vielerlei. Ich erinnere mich an Situationen, in denen in den abgelegenen Gebieten die Sharia verlangt wurde, weil das staatliche Rechtswesen nicht funktionierte. Die Leute wollten wenigstens irgendein Rechtswesen haben und nicht in einem rechtlichen Vakuum leben.

In solchen Situationen bieten traditionelle Strukturen Halt.
Ja, und das islamische Recht hat obendrein den Vorteil, dass es der Definition nach den Herrschern übergeordnet ist. Dieser Vorstellung nach darf der Staat nicht machen, was er will, sondern muss sich Gottes Regeln unterordnen. Andererseits nutzen Extremisten in der Nordwestprovinz einschließlich des Swat-Tals die Sharia als Kampfmittel, um den Staat zurückzudrängen und „befreite“ Gebiete zu schaffen. Das ist in der Tat gefährlich.

Wie steht die Sharia zu den Menschenrechten?
Das ist ja genau der Punkt. Benazir Bhutto ist nicht für die Sharia eingetreten, um die Menschenrechtslage zu verschlechtern. Aber es gibt Kräfte in konservativen oder religiösen Kreisen im Nordwesten, aber auch im südlichen Punjab, die mit der Sharia die in Pakistan real kaum vorhandene, aber zumindest in der Verfassung angelegte Gleichstellung von Mann und Frau aushebeln wollen. Gerade in den Grenzgebieten zu Afghanistan bringt die Sharia überwiegend Einschränkungen der Menschenrechte, zum Beispiel der Meinungsfreiheit, mit sich. Dort werden Friseurläden in die Luft gesprengt, weil Männer ihre Bärte nicht abrasieren sollen. Das mag theologisch unsinnig sein, wird aber dennoch unter dem Namen Sharia verkauft. Es ist oft nur ein politisch mobilisierender Slogan, aber kein theologischer Begriff.

Rechtsstaatlichkeit ist in Pakistan ein heißes Thema. Der Militärherrscher Pervez Musharraf ist nicht zuletzt darüber gestürzt, dass er Iftikhar Chaudhry als Chief Justice abgesetzt hat. Unter dem Druck einer starken Anwalts- und Massenbewegung hat Präsident Asif Ali Zardari ihn nun wieder eingesetzt. Diesen Schritt hatte er aber über ein Jahr hinausgezögert. Wie ist das zu verstehen?
Zardari befindet sich in der Defensive. Er hat sich in der Opposition gegen Musharraf immer öffentlich für die Richter ausgesprochen, aber dann nach den Wahlen einen Rückzieher gemacht. Er hat selbst alle möglichen Gerichtsverfahren zu befürchten – die Vorwürfe reichen von massiver Korruption bis hin zu Mord. Das setzt ihn unter Druck. Zugleich fordert in der gegenwärtigen Krise eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung einen Rechtsstaat mit einem funktionierenden Verfassungsgericht. Zardari hat einen schlechten Leumund. Zudem sieht er sich in der aktuellen Konfrontation einem Großteil der Bevölkerung, der gewählten Opposition und der US-Regierung gegenüber. Auch im Militär gibt es Kritik an ihm. Sein Zugeständnis, Chaudhry wieder einzusetzen, ist unter Zwang erfolgt. Zaradaris politische Zukunft ist gefährdet.

Was würde ein säkularer Rechtsstaat mit funktionierendem Verfassungsgericht für die Taliban und fundamentalistische Kreise bedeuten?
Seit zwei Jahren tritt der Bettler an der Ecke genauso wie der konservative Mullah oder der säkulare, Krawatten tragende Rechtsanwalt für einen Rechtsstaat und die geltende Verfassung ein. Wenn tatsächlich auf Drängen der Bevölkerung ein funktionierender Rechtsstaat entstünde, wäre das unglaublich wichtig für die Akzeptanz des politischen Systems. Derzeit leben die Extremisten unter anderem davon, dass die Mehrheit der Bevölkerung die rechtliche Willkür der Mächtigen und die Korruption leid ist. Würde die Sehnsucht nach einem soliden Rechtssystem erfüllt, dann wären mittelfristig auch die Extremisten erheblich geschwächt.

Die internationale Presse stellt den Konflikt um Chief Justice Iftikhar Chaudhry als Machtkampf zwischen Präsident Asif Ali Zardari und Oppositionsführer Nawaz Sharif dar. Ist das richtig? Immerhin gab es schon Massendemonstrationen für Chaudhry, als sowohl der Bhutto-Clan als auch Sharif noch im Exil waren.
Die Zeit bis zu Benazir Bhuttos Tod war gekennzeichnet von Machtkämpfen zwischen der ehemaligen Ministerpräsidentin und Nawaz Sharif beziehungsweise deren Familien. Diese Auseinandersetzungen führt Bhuttos Witwer Zardari jetzt fort – das entspricht seinem Eigeninter­esse. Sharifs momentane Stärke liegt auch weniger an seiner Parteipolitik oder seiner Charakterstärke als daran, dass er sich zum Sprachrohr der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gemacht hat. Als Musharraf ihn 1999 stürzte, hat ihm aber niemand eine Träne nachgeweint.

In Pakistan ist mindestens ein Drittel der Volkswirtschaft „Schattenökonomie”. Waffenhandel und Drogen spielen eine große Rolle. Welche Bedeutung hat vor diesem Hintergrund der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit?
Die Schattenwirtschaft ist eines der strukturellen Hauptprobleme Pakistans und eines der Elemente, das verhindert, dass der Staat funktioniert. Aber es geht dabei nicht nur um Waffen und Drogen, sondern auch um weniger spektakuläre Bereiche wie Steuerhinterziehung. In manchen Bereichen funktioniert der pakistanische Staat gut – der militärische Geheimdienst ist ein Beispiel dafür. In anderen hingegen klappt es gar nicht, und dazu zählt das Steuerwesen. Die Landwirtschaft beispielsweise zahlt faktisch keine Abgaben.

Welche Rolle spielt der Geheimdienst?
Der Militärgeheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) war zumindest seit den 80er Jahren ein wichtiger Akteur, bezogen auf Afghanistan, Kaschmir und auch auf die Atomfrage. Mein Eindruck ist, dass er in den letzten Jahren wieder stärker an das militärische Oberkommando gebunden ist und weniger Eigenleben hat als früher. Das ist kein Wunder: Im Wesentlichen besteht der ISI aus Militärs, die für zwei bis drei Jahre in den Geheimdienst versetzt werden. Und seit den 90er Jahren hat der ISI mehrere Säuberungen gegen Fundamentalisten erlebt.

Und wie beurteilt das Militär die Lage?
Das ist schwer zu sagen, das Militär hat sich ja gerade erst von der Macht zurück­gezogen. In den nächsten paar Jahren erwarte ich keinen Putsch. Das würde das Militär selbst schwächen und wäre gesellschaftlich verpönt. Interessant ist, dass es im Moment auch im pakistanischen Militär starke Kritik an Musharraf gibt. Eine Gruppe hochrangiger Ex-Generäle und Geheimdienstoffiziere hat voriges Jahr gefordert, ihn wegen Verrats an der Verfassung vor Gericht zu stellen. Im Moment äußert sich auch im Militär dieses Bedürfnis nach Rechtsstaatlichkeit. Das würde sich wahrscheinlich wieder ändern, wenn das Land noch tiefer in die Krise schlitterte.

Was ist aus NATO-Sicht wünschenswert?
Chaudhry ist kein Garant dafür, dass Rechtsstaatlichkeit wirklich die ganze Gesellschaft durchdringt. Wenn das so wäre, würde das die Regierungen vieler NATO-Länder ideologisch freuen, anderseits aber auch die Kontrolle Pakistans von außen erschweren. Langfristig würde Rechtssicherheit Pakistan allerdings stabilisieren – und wäre somit auch aus Sicht der NATO sehr erfreulich.

Die Fragen stellten Hans Dembowski und
Eleonore von Bothmer.

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