Nahost-Konflikt

Handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt

Die palästinensischen Gebiete treten dem Internationalen Straf­gerichtshof (IStGH) bei. Juraprofessor Kai Ambos erklärt im Interview mit Hans Dembowski, was dieser Schritt bedeutet.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei der UN-Generalversammlung in New York im September 2014. Drew/AP photo/picture-alliance Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei der UN-Generalversammlung in New York im September 2014.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat angekündigt, dass die Palästinen­sergebiete vom 1. April an Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) sein werden. Steht das damit fest?
Ja, denn jeder Staat hat das Recht, dem IStGH beizutreten, und die palästinensische Autonomiebehörde hat diesen Beitritt gerade vollzogen. Fraglich war eigentlich nur, ob der Staatscharakter der palästinensischen Gebiete anerkannt wird. Dies ist aber spätestens seit dem entsprechenden Beschluss der UN-Generalversammlung vom 4. Dezember 2012 der Fall. Insoweit ist Bans Entscheidung nicht überraschend. Der 1. April ergibt sich dann als Datum aus Artikel 126, Absatz 2 des Römischen Statuts des IStGH.

Also ist der IStGH von April an für die Palästinensergebiete zuständig?
Ja, allerdings ergibt sich schon eine frühere Zuständigkeit aufgrund eines anderen Rechtsinstruments. Zum 31. Dezember 2014 hat Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas nämlich in einer Ad-hoc-Erklärung gemäß Artikel 12, Absatz 3 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkannt – und zwar rückwirkend ab dem 13. Juni 2014 für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ostjerusalem. Eine solche rückwirkende Begründung der Zuständigkeit ist in der ständigen Praxis des IStGH anerkannt. Diese Möglichkeit wurde etwa auch von der Elfenbeinküste genutzt. Damit ist der IStGH auch für den letzten Gazakrieg zuständig.

Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu hat sich vehement gegen den Beitritt der Palästinenser ausgesprochen. Fürchtet er, dass Israelis rechtskräftig verurteilt werden?
Das ist noch ein ganz langer Weg. Nötig wären zunächst Vorermittlungen, dann formale Ermittlungen mit Identifizierung von Tatverdächtigen sowie deren Überstellung an das Gericht. Und selbst wenn es so weit käme, würde Israel sicherlich argumentieren, ein Eingreifen des IStGH sei überhaupt nicht nötig, weil es eine funktionierende Militärjustiz habe. So argumentieren zurzeit etwa auch die Briten mit Blick auf Foltervorwürfe im Irakkrieg. Klar ist aber, dass der Nahostkonflikt mit der nun begründeten Zuständigkeit des IStGH eine neue juris­tische Dimension bekommen hat.

Stimmt es, dass es ein Kriegsverbrechen ist, in einem besetzten Gebiet wie Palästina Siedlungen zu bauen?
Grundsätzlich verbietet das humanitäre Völkerrecht einer Besatzungsmacht, auf besetztem Territorium permanente Tatsachen zu schaffen. Auf dieser Grundlage sieht das IStGH-Statut ein Kriegsverbrechen in der „Überführung“ eigener Zivilbevölkerung in das besetzte Gebiet vor. Nun sind, was die konkrete Situation in den palästinensischen Gebieten angeht, auf Dauer angelegte Siedlungen mit kompletter Infrastruktur, die von der Besatzungsmacht in vielfältiger Weise unterstützt werden, etwa durch militärischen Schutz, Wasserversorgung und sogar Gewährung von Steuerbefreiungen, natürlich nicht irgendwelche Zeltlager. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die Zuständigkeit des IStGH sich nicht auf die Zeit vor dem 13. Juni 2014 erstreckt. Der IStGH kann sich also eigentlich nur mit dem späteren Siedlungsbau befassen. Daraus folgt aber, dass – sollte der Siedlungsbau so weitergehen wie bisher – die Anklagebehörde des IStGH in ein paar Jahren argumentieren könnte, dass es ein Siedlungsmuster im Sinne des genannten Kriegsverbrechens gibt, und entsprechend Ermittlungen einleiten. Natürlich gibt es mit Blick auf den jüngsten Gazakrieg derzeit offensichtlichere Fälle, bei denen der Verdacht von Kriegsverbrechen naheliegt; denken Sie etwa an die Tötung von Kindern und die massiven Zerstörungen.

Haben auch Palästinenser etwas zu befürchten?
Selbstverständlich. Die Anklagebehörde ermittelt objektiv in alle Richtungen. Auch die Raketenangriffe der Hamas auf israelische Wohngebiete können als Kriegsverbrechen verfolgt werden. Gerade deshalb war die Entscheidung, die Zuständigkeit des IStGH anzuerkennen, auch durchaus unter Palästinensern umstritten. Radikale Kräfte waren aus offensichtlichen Gründen dagegen.

Was ist das Motiv von Abbas?
Ich denke, dass die Geduld des palästinensischen Volkes und seiner Regierung angesichts der Verschleppungstaktik gerade der aktuellen israelischen Regierung einfach am Ende ist. Sie wollen sich damit der vorhandenen völkerrechtlichen und multilateralen Mechanismen bedienen, wobei der IStGH-Beitritt nur eine von vielen Maßnahmen ist. Die Autonomiebehörde ist ja auch anderen internationalen Abkommen und Institutionen beigetreten – etwa der Seerechtskonvention. Natürlich hat der IStGH eine besondere Bedeutung, das erklärt auch die Aufregung der Israelis und ihrer Verbündeten. Rechtlich gesehen handelt es sich aber im Grunde nur um eine Selbstverständlichkeit, nämlich die rechtlich verbindliche Willenserklärung eines neu entstandenen Völkerrechtssubjekts, das natürlich auch seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen will. Dieses Recht ist Ausdruck der ­Souveränität dieses Staates und kann ihm deshalb von niemandem verwehrt werden.

Netanyahu würde das aber ­offensichtlich gern tun.  
Seine Haltung ist sehr problematisch. Als Sanktion für Abbas Politik hat Israel eingezogene Steuern, die der Autonomiebehörde zustehen, einbehalten. Das zeigt aus meiner Sicht, dass die israelische Regierung das Gleichheitsprinzip, das palästinensische Staatlichkeit nun einmal impliziert, nicht anerkennt, denn niemand kann, wie eben schon gesagt, einem anderen Staat verwehren, souveräne Entscheidungen mit Blick auf multilaterale Abkommen und Institutionen zu treffen. Würde Netanyahu die Palästinenser als gleichwertige Verhandlungspartner anerkennen, wie es das Völkerrecht fordert, müsste er das eigentlich verstehen. Mir leuchtet zudem grundsätzlich nicht ein, dass die gegenwärtige israelische Regierung es den Palästinensern verwehren will, den Konflikt mit völkerrechtlichen Mitteln zu lösen. Das ist doch allemal besser als die von radikalen Palästinensern präferierte militärische Option. Auch Israel könnte ja daraus – mit Blick auf die Verfolgung palästinensischer Kriegsverbrechen – Nutzen ziehen.

Der IStGH hat in jüngster Zeit ein Verfahren gegen Kenias Präsidenten Uhuru Kenyatta wegen Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit Unruhen nach Wahlen einstellen müssen. Beobachter haben das als schweren Rückschlag gewertet. Stärkt der Beitritt der Palästinen­sergebiete den IStGH jetzt wieder?  
Das würde ich nicht überwerten. Sicher ist, dass die Anklagebehörde jetzt beweisen kann, dass sie sich Ermittlungen auch gegen solche Parteien zutraut, die die Unterstützung einer Supermacht wie den USA genießen. Die Situation ist für die Anklagebehörde natürlich nicht einfach. Sie wird jede Entscheidung – ob sie sich für oder gegen Ermittlungen entscheidet – sehr gut begründen müssen; beiden Seiten wird sie es nie recht machen können. Jedenfalls muss sie professionell, unpolitisch und faktenorientiert handeln; dann könnte sie sich auch profilieren und das würde insgesamt der Reputation des IStGH guttun. Die Anklagebehörde hat jedenfalls bereits mitgeteilt, dass sie in Palästina „in voller Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit“ Vorermittlungen aufnimmt.

Kai Ambos
ist Professor für Strafrecht, Straf­prozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht an der Universität Göttingen sowie Richter am Landgericht Göttingen.
kambos@gwdg.de

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