Migration

Überall und nirgendwo zu Hause

Multilokalität bedeutet, dass jemand mehrere Haushalte gleichzeitig führt. Ob in China, Moldawien oder Südafrika: Viele Menschen arbeiten und wohnen nicht dort, wo sie zu Hause sind.
Binnenmigranten vor dem Bahnhof von Guanzhou, China. Julio Etchart/Lineair Binnenmigranten vor dem Bahnhof von Guanzhou, China.

Laut Weltbank gab es 2012 circa 200 Millionen internationale Migranten, die in einem anderen Land leben als in dem, in dem  sie geboren sind. In vielen Ländern gibt es zudem Binnenmigranten – in China allein rund 230 Millionen. Viele ziehen vom Land in eine Stadt, um Arbeit zu finden. Die meisten geben ihren Besitz im Heimatort nicht auf und lassen Angehörige zurück. Beispielsweise bleiben schulpflichtige Kinder oft in der Heimat.  

Migration schafft nicht nur emotionale Probleme, sondern auch sozialpolitische. Das chinesische Sozial- und Gesundheitssystem ist beispielsweise an den offiziellen Wohnort gebunden, wo man registriert ist. Wer anderswo lebt und arbeitet, hat dort keine staatliche soziale Sicherung.

Cindy Fan von der University of California/Los Angeles sagt, in China werde Landarbeit mit Armut und urbanes Leben mit Aufstieg verbunden. Viele Landflüchtige hofften, in der Stadt genug Geld zu verdienen, um zuhause ein großes Haus bauen und die Kinder in bessere Schulen schicken zu können. Staatliche Statistiken geben ihr recht. Demnach wollen nicht einmal 40 Prozent der Binnenmigranten sich auf Dauer dort niederlassen, wo sie der Erwerbstätigkeit wegen hingezogen sind.

15 Jahre Johannesburg

Ähnliches gilt auch für Migranten in Afrika. Loren Landau von der Wits Universität in Südafrika berichtet, dass die meisten Ostafrikaner, die in südafrikanischen Agglomerationen stranden, nicht vorhaben zu bleiben. Eigentlich wollen sie weiter nach Europa oder Australien. Auf einer Tagung über multilokale Haushalte, die die Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund im September  veranstaltete, berichtete er von Somaliern, die sei 15 Jahre in Vororten von Johannesburg leben und noch immer glauben, sie würden nicht lange bleiben.

Landau zufolge fühlen sich Kommunalpolitiker für diese Menschen nicht zuständig. Auch sie meinen, Migration sei ein temporäres Phänomen. Außerdem finden sie, die nationale Regierung sei verantwortlich. Der Wissenschaftler sagt, es werde systematisch unterschätzt, dass multilokale Lebensperspektiven Normalität seien. Selbst wenn Migranten tatsächlich wieder abreisten, kämen neue nach. Er fordert neue Wege, um Migranten in das gesellschaftliche Leben und die Politik zu integrieren. Ein Problem sei aber, dass die Datenlage dürftig sei und dass Kommunalverwaltungen die Statistiken, die es gibt, gern ignorierten.

Landau illustriert seine Perspektive am Beispiel Bürgerhaushalte. Nach brasilianischem Vorbild beteiligen mittlerweile viele Kommunen in Südafrika die Bürger an der Aufstellung der Haushalte. Migranten blieben dabei jedoch ausgegrenzt, obwohl sie ein relevanter Anteil der Bevölkerung seien. Dass sie sich selbst auch nicht als ortszugehörig wahrnehmen, verkompliziere die Situation weiter. Aus Landaus Sicht kommt es darauf an, langfristig zu planen und Probleme frühzeitig zu erkennen, um Spannungen zu ver­meiden.

Laut Alexander Seidl vom Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM), einer gemeinsamen Einrichtung von GIZ und Bundesagentur für Arbeit, bringt Auslandserfahrung  allen Seiten Vorteile. Er spricht von einer „Triple-Win-Situation“, da die Migranten selbst, die Orte, an die sie ziehen, aber auch die Heimat profitieren können. Er berichtet, das sei beispielsweise in Moldawien der Fall. Viele Menschen kehrten aus dem Ausland, aber auch aus moldawischen Städten in Dörfer zurück. Es zeige sich, dass nicht nur Heimatüberweisungen an Angehörige wichtig seien, sondern auch Ersparnisse und Berufserfahrung. Die Bedeutung der Binnenmigration werde häufig unterschätzt.

Seidels Meinung nach sollten sowohl Kommunalpolitiker als auch Unternehmen mehr tun, um das Potential der Migration systematisch zu nutzen.  Er empfiehlt, sowohl in den Herkunfts- als auch in den Zielkommunen  Informationszentren einzurichten. Das trage auch dazu bei, das Vertrauensverhältnis zwischen staatlichen Institutionen und Bürgern zu stärken.

Lea Ferno

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