Popmusik

„Die wahren Führer der Afghanen“

Die internationale Gemeinschaft und die lokale Politik sollten der Bedeutung von Kultur in Afghanistan mehr Beachtung schenken, meint der international bekannte Superstar und UN-Sonderbeauftragte, Farhad Darya. Im Interview mit E+Z begründet er warum und spricht über die Macht der Musik.


[ Interview mit Farhad Darya ]

Der Einfluss der Politik hat Grenzen. Wie viel Macht hat Musik auf eine Gesellschaft?
Wir alle wissen, wie mächtig Musik ist. Aber die Welt macht sich nicht klar, wie wichtig sie für die Afghanen ist. Sie ist im Grunde der einzige loyale Freund, der ihnen in dieser turbulenten und sozio-politisch heiklen Zeit geblieben ist – mit all den Kriegen, die afghanische und nichtafghanische Warlords geführt haben. Etliche Ansätze sind gescheitert, aber die Musik war in den letzten Jahrzehnten immer da für die unterdrückten und frustrierten Menschen. Als das kommunistische Regime begann, Afghanistan zu beherrschen, missbrauchte es dieses starke Werkzeug im Dienste seiner Ideologie. Als die Mujaheddin die Macht ergriffen, war einer der ersten Bereiche, den sie attackierten, die Musik. Später stellten die Taliban ihre Existenz unter Beweis, indem sie Musik zu Tode verbannten und verfluchten. Und warum? Weil Musik den Menschen in Afghanistan immer schon Mut gemacht hat und die Diktatoren sie schon immer fürchteten. Trotz ethnischer Grenzen und Stammesunterschiede konnten und können die Menschen immer noch am besten und tiefgreifendsten durch die Musik miteinander kommunizieren.

Sie sagten einmal, einer der größten Fehler der internationalen Gemeinschaft sei es, die Kultur Afghanistans zu unterschätzen. Welche Rolle spielt Kultur in Ihrem Land?
Es gibt zwei Hauptthemen, die das Leben und Verhalten der Menschen in Afghanistan bestimmen: Religion und Kultur. Offensichtlich ist Kultur die crème de la crème der afghanischen Gesellschaft. Die Taliban setzen auf Religion, aber sie übergehen die Kultur. Haben Sie das je wahrgenommen und sich gefragt, warum das so ist? Das liegt daran, dass die Afghanen die gleiche Religion haben wie Milliarden anderer Menschen auf der Welt, aber eine Kultur, die nur die ihrige ist. Wenn man die Afghanen verstehen will, muss man ihre Kultur verstehen. Kultur und Tradition sind die wahren, aber unsichtbaren Führer der Menschen in Afghanistan. Wenn man damit nicht zurechtkommt, kommt man mit den Afghanen nicht zurecht (lacht).

Auf welche Weise sollte sich die internationale Gemeinschaft damit auseinandersetzen?
Unglücklicherweise definiert, vergleicht und bewertet die internationale Community die kulturellen Standards der Afghanen mit denen ihrer eigenen Kulturen. Sie können nicht akzeptieren, dass zwar alle Menschen sind, es aber Unterschiede gibt. Die internationale Gemeinschaft sollte – auch um ihrer selbst willen – die afghanische Kultur kennenlernen, respektieren und erfahren. Erfahren deshalb, weil die internationale Gemeinschaft tief involviert ist in Afghanistan. Sie ist auch für die Folgen ihres Verhaltens verantwortlich.

Wie sollten Kultur und Politik zusammen­arbeiten?
Ich erwähnte ja bereits die Macht der Kultur in meinem Land. Selbst Politik wirkt hier durch die Kultur hindurch und basiert auf kulturellen Werten. Der afghanische Präsident sollte sich mehr darauf konzentrieren als auf Kenntnisse und Tricks der Politik (lacht). Wie auch immer, mir gefällt es nicht, wie es auf diesem Teil des Planeten zugeht. Politik und Kultur sollten einen Weg finden, miteinander umzugehen und zu kooperieren: Einen Weg, der das rechtmäßige Kind ist aus der Ehe zwischen Kultur und Politik – einen Weg, den es bisher in Afghanistan nicht gab.

Sie sind ein international bekannter und politisch aktiver Popsänger, und die Menschen schenken dem, was Sie tun, Beachtung. Was ist Ihre Botschaft?
Meine Botschaft ist ganz einfach: Das Leben ist schön, ruiniert es nicht!

Wie steht es um Ihr „Peace by Music“-Project, mit dem Sie den Dialog zwischen den Menschen verschiedener Länder fördern wollen?
Wir arbeiten noch daran. Aber es ist kein einfacher Prozess, und es kostet Zeit, besonders wenn wir über die Teilnahme von Ländern sprechen, die seit Jahren im Konflikt miteinander stehen.

Im Internet findet man Ihre Videoclips, es gibt Fanseiten, Sie sind auf Facebook – aber haben denn die Menschen, insbesondere auf dem Land, überhaupt Zugang zu diesen Medien?
Früher war es nicht einfach, Musik unter die Leute zu bringen, weil die Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt waren. Inzwischen ist es dank der Technologie viel einfacher. Die Medien sind eine wachsende Autorität in Afghanistan, die das Leben der Menschen bestimmt. Etliche neue Fernseh- und Radio­kanäle, Zeitungen, Magazine und so weiter sind in letzter Zeit auf den Markt gekommen. Früher hatten die Menschen fast nirgendwo auf dem Land ein Telefon; jetzt können sie die aktuellen Musikhits der ganzen Welt mit einem Fingerklick über ihre Telefone empfangen, während sie irgendwo fernab in einem Teehaus im hintersten Eck des Landes sitzen. Das ist eine große Errungenschaft für die Menschen – aber auch für die afghanischen Künstler, die jeden Bürger dieses Landes erreichen können müssen.

In den 1980ern und 1990ern wurde Musik in Afghanistan unterdrückt und sogar verboten. Sie selbst haben viele Jahre im Exil gelebt, Ihre Musik wurde wegen politischer Inhalte zensiert. Seit einiger Zeit leben Sie wieder in Kabul. Sind diese Probleme Vergangenheit?
Ich finde, eine Regierung muss stark genug sein, sich einer Sache zu widersetzen. Heutzutage kämpft die afghanische Regierung um ihr Überleben und darum, eine richtige Regierung zu werden. Wir sollten warten, bis die ausländischen Truppen das Land verlassen haben und die Regierung wieder übernimmt. Dann sehen wir weiter, und dann können wir noch mal darüber sprechen. Das alles bedeutet, dass es heute – verglichen mit früher – keine echte Zensur mehr in Afghanistan gibt.

Die Menschen im Westen neigen dazu zu glauben, dass es keine „Normalität“ in Ihrem Land gibt. Und es fällt ihnen schwer, sich dort, wegen der vielen Probleme, die das Land hat, ein modernes Leben vorzustellen. Haben Sie in Afghanistan die gleichen Möglichkeiten wie andernorts?
Auch die USA und Deutschland zum Beispiel haben große Probleme, und dennoch führen die Menschen ein modernes Leben. Probleme zu haben, schließt ein modernes Leben nicht aus. Eine Gesellschaft ohne Probleme wäre das Paradies, das es aber auf Erden nicht gibt. Immer wenn ich in Afghanistan bin, vermisse ich – neben den schönen Seiten des Lebens, die ich genieße – einige Möglichkeiten, die ich im Westen habe. Das Gleiche passiert mir, wenn ich im Westen bin und die Möglichkeiten dort nutze, mir aber zugleich die Optionen fehlen, die ich in Afghanistan hätte. Das ist genau das, was viele Menschen im Westen nicht verstehen: Sie denken, es gibt nur eine Art zu Leben – und das ist die westliche (lacht). Ich versuche seit vielen Jahren, der Welt die Normalität und das wirkliche Gesicht Afghanistans zu zeigen. Im Westen erfahren die Menschen von Afghanistan über die Medien. Diese sind wirtschaftlich orientiert und wollen sich verkaufen, aber niemand kauft gute Nachrichten! Ihnen ist nicht bewusst, wie unfair und auf welch traurige und bittere Weise sie das Leben der Menschen in diesem Teil der Welt durch eine einfache kleine Nachricht oder eine kleine Lüge schädigen.

Ist die Tatsache, dass Sie in Ihr Land zurückgekehrt sind, eine Ansage an Ihre Landsleute: Ja, ihr könnt etwas in eurem eigenen Land erreichen?
Ganz klar: ja! Ich bin überzeugt, dass sie es können. Sie müssen nur an ihr Potential glauben.

Fragen von Eleonore von Bothmer.

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