Pressestimmen

Verlorene Glaubwürdigkeit

In Haiti, vom Erdbeben zerstört und von der Cholera geschwächt, fanden am 28. November 2010 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Doch die Ergebnisse sind im In- und Ausland äußerst um­strit­ten. Während sich die Wut der Bevölkerung in heftigen Aufständen entludt, schien die internatio-nale Gemeinschaft nicht sicher, wie sie reagieren soll, und änderte mehrmals ihre Haltung. Die Medien debattierten die Ereignisse wochenlang – die hier zitierten Auszüge erschienen Mitte Dezember.

Haiti: Le Nouvelliste
Der Protest hat schöne Zeiten vor sich: Eine neue Generation wählt lauthals auf der Straße. [... ] Die Drohungen der USA verschärfen sich. Blockierte Fonds, annullierte Visa – man fühlt sich zurückversetzt in die Zeit des Staatsstreichs 1991 und der Embargos. Die Beobachter wissen nicht mehr, wie sie die Schließung der kanadischen Botschaft bewerten sollen. Oder das Schweigen der UN-Mission, die sich zunächst zum guten Verlauf der Wahlen beglückwünschte. Oder die Position der anderen Freunde Haitis, die nur noch höchst diplomatische Phrasendrescherei an den Tag legen. Was ist geschehen, wovon wir nichts wissen? In was für einem Spiel befinden wir uns heute? Die Milliarden Wiederaufbauhilfe – sind sie das wahre Thema dieser Wahlkrise? Braucht es um jeden Preis einen noch schwächeren Präsidenten, um Haiti besser zersetzen zu können? Muss diesem gescheiterten Staat auch der letzte Fetzen Souveränität genommen werden? Muss die letzte pappige Fassade nieder gerissen werden, die uns noch den Eindruck vermittelt, ein Land zu sein? Der Lärm und die Wut auf den Straßen – lenken sie uns vom Wesentlichen ab?

Schweiz: Le Temps
Seit mehreren Wochen zeichnete sich ab, dass die internationale Gemeinschaft bei der Überwachung der Wahlen in Haiti ins Schleudern geraten ist. [...] Für die UN vollzieht sich Tag für Tag das schlimmste vorstellbare Szenario. Der Bericht des französischen Arztes Renaud Piarroux, der nepalesischen Blauhelmsoldaten für die Cholera-Epidemie verantwortlich machte, hat die aktuellen Krise zusätzlich verschärft. [...] „Die Schwierigkeiten sind fast unüberwindbar hier“, meint ein UN-Mitarbeiter. „Man hört nicht auf, uns zu beschuldigen, aber wenn Sie wüssten – die haitianischen Politiker sind einfach völlig unmögliche Ansprechpartner.“ Die nichtstaatlichen Organisationen, die UN und die haitianischen Politiker – alle sind sie unverzichtbare Partner, doch sie beäugen sich misstrauisch und verweisen systematisch auf die Verantwortlichkeiten der jeweils anderen. Die Stabilisierung Haitis scheint weiter entfernt denn je. Diese erste Wahlrunde, an der nur ein Viertel der Wähler teilgenommen hat, belastet jetzt schon den künftigen Präsidenten.

Großbritannien: The Economist
Die USA drängen die haitianische Regierung und das Wahlkomitee, den „Willen des Volkes“ zu akzeptieren. Dasselbe sagte zuvor Edmond Mulet, der Leiter der UN-Friedensmission in Haiti. [...] Doch was ist der Wille des Volkes? Nur 1,1 Millionen der 4,7 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. [...] Zehn der 19 Präsidentschaftskandidaten fordern die Annullierung der Wahlen, und mit ihnen viele Haitianer. Zu den vielen Gründen für diese Forderung – der Ausschluss einiger politischer Parteien, die Cholera-Epidemie und die Tatsache, dass viele Haitianer nicht zur Wahl zugelassen wurden – können sie nun auch ein Wahlkomitee zählen, das nicht zu wissen scheint, wie man richtig zählt.

USA: New York Times
Haiti braucht mit seinen vielen Problemen dringend eine glaubwürdige, legitime Regierung. [...] Als Präsident René Prévals von Hand ausgesuchtes Wahlkomitee am Dienstag verkündete, dass sein Schützling, Jude Célestin – den Berichten unabhängiger Beobachter zuwider – den beliebten Musiker Michel Martelly für die Stichwahlen im Januar aus dem Rennen geworfen habe, reagierte die Bevölkerung mit Wutausbrüchen. [...] Noch bleibt etwas Zeit, ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzugewinnen. [...] Die Regierung versprach, die Wahllisten erneut zu überprüfen. Nun müssen die USA und die internationalen Partner die nächsten entscheidenden Schritte im Auge behalten. Die Haitianer – darunter auch Herr Martelly und seine Anhänger – müssen derweil ihre Frustration zurückhalten, um ihr am richtigen Ort und zur richtigen Zeit Luft zu machen: an den Wahlurnen im Januar.

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