Recht haben und Recht bekommen

Um den Zugang zur Justiz zu verbessern, hat sich im Jahre 2000 in Uganda eine große Koalition unterschiedlicher Akteure gebildet. Beim Reformansatz spielen auch zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle – vor allem im krisengeschüttelten Norden des Landes.


[ Von Georg Sticker und Dorothee Hutter ]

Das Gefängnis in Kigo, nahe Ugandas Hauptstadt Kampala, beherbergt an die 900 Gefangene, rund doppelt so viele wie vorgesehen. Die meisten sind in Untersuchungshaft. Ihre Verfahren finden, je nach Anklage, an verschiedenen Gerichten statt. Der gefängniseigene LKW muss sie dorthin bringen. Er ist altersschwach, kann jederzeit zusammenbrechen und wird auch dazu gebraucht, Lebensmittel, Holz und Wasser zu besorgen. Dass Inhaftierte rechtzeitig zu ihren Prozessen kommen, ist also nicht sicher.

Wer dieses Glück hat, steht gleich vor weiteren Hürden: Ist der Anwalt da? Liegen dem Gericht alle Akten vor? Wurden die Verfahrensregeln eingehalten? Wenn nicht, droht wochen- oder gar monatelange Vertagung.

Justiz ist in Unganda eine langwierige und unsichere Angelegenheit. Anfang 2006 waren 21 822 Verfahren anhängig; im Jahr zuvor waren es noch rund 2000 weniger gewesen. Dass mehr neue Prozesse beginnen als laufende abgeschlossen werden, liegt nicht nur an der seit Jahren steigenden Kriminalitätsrate. Ein wichtiger Grund ist auch das weiterhin mangelhafte Zusammenspiel der Institutionen. Um die Situation zu verbessern, reicht es nicht, nur einen Teil der Justiz zu reformieren. Diese Erkenntnis stand im Jahr 2000 am Anfang von Afrikas ältestem sektorweiten Ansatz zu Justiz, Recht und Ordnung („Justice, Law and Order Sector-wide Approach“– kurz JLOS, siehe Kasten auf der nächsten Seite).

Seither ist einiges geschehen. 2004 hielt eine Zwischenevaluierung des International Human Rights Networks und der Nordic Consulting Group fest, dass Koordination, Kommunikation und Kooperation im Justizsektor besser geworden sind. Das drückte sich auch in konkreten Zahlen aus. So war etwa die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft bei Schwerverbrechen von 24 auf 15 Monate gesunken. Der Anteil der über den rechtlich zulässigen Zeitraum in Untersuchungshaft befindlichen Personen war in diesem Kontext von über 30 auf unter ein Prozent gefallen. Dennoch bleiben viele Probleme ungelöst.


Ungewohnte Methoden

Um Justiz und Strafvollzug zu verbessern und die Anzahl der Gefängnisinsassen zu verringern, setzt der sektorweite Ansatz auch auf innovative Mittel: Statt zu Haftstrafen werden manche Täter nun zu Sozialdienst verurteilt. So etwas war früher unbekannt. In einer Gesellschaft, die ein ausgeprägtes Bewusstsein für Strafen hat, gleichzeitig aber auch über verschiedene traditionelle Versöhnungs- und Sühnemethoden verfügt, ist die Einführung eines neuen Konzeptes nicht einfach.

„Wenn Nachbarn in einer kleinen Stadt sehen, dass derjenige, der ihnen Unrecht getan hat, weiterhin frei herumläuft und sie das Konzept von Sozialdienst statt Strafe nicht kennen, haben sie das Gefühl, dass Unrecht nicht geahndet wird“, urteilt der National Community Service. In Justizinstitutionen und der Bevölkerung laufen deshalb Aufklärungskampagnen.

Wichtig wäre indessen auch, die Ableistung des Sozialdienstes streng zu überprüfen. Diese Aufgabe ist dem Probation Service des Jugendministeriums zugedacht, aber in der Praxis hakt es manchmal.

Der Zweck der neuen Methode leuchtet aber ein. Sozialdienst fördert öffentliche Anliegen. Zugleich sinkt die Zahl der Gefängnisinsassen, wodurch einerseits mehr Ressourcen für die übrige Gefängnispopulation verfügbar sind und andererseits Resozialisationsprobleme reduziert werden. Obendrein müssen weniger Familien Not leiden, weil weniger Väter weggesperrt werden. Mehr als 80 Prozent der Straffälligen sind Männer, von deren Einkommen die Angehörigen leben.

Zunächst wurden in vier Pilotdistrikten kleinere Vergehen mit der Verpflichtung zu Sozialdiensten geahndet: Sie mussten zum Beispiel Gesundheitszentren putzen oder Schulmöbel reparieren. Die Rückfallrate ist mit etwa zehn Prozent deutlich niedriger als bei Gefängnisaufenthalten (40 bis 60 Prozent), wie JLOS-Unterlagen zeigen.


Wirtschaftsstreitigkeiten

Wer Abläufe besser gestalten will, fragt am besten seine Kunden. Das tut der ugandische Commercial Court, der sogenannte Nutzerkomitees eingerichtet hat, in denen Vertreter der Wirtschaft Justizangestellten ihre Bedürfnisse erläutern.

Inzwischen hat der Commercial Court einige Verfahrensdinge vereinfacht. Außerdem wurden Mediation und Schlichtung für Wirtschaftsstreitigkeiten eingeführt, was vor allem Kleinstunternehmen zugutekommt. Schlichtung ist deutlich preiswerter und schneller als ein Gerichtsverfahren, und die Hemmschwelle, eine Mediation zu beauftragen, ist geringer, als einen Prozess anzustrengen.

Solche Reformen gelingen nur, wenn Justizverwaltung und Gesetzgebung sich neuen Ideen öffnen. Sie sind es, die den nötigen rechtlichen Rahmen herstellen müssen. Dass es sich lohnt, bestätigte 2004 die Weltbanktochter International Finance Corporation. In ihrem Bericht „Developing Business and Infrastructure in Africa“ hieß es: „In Tanzania and Uganda, judicial commercial dispute resolution has been streamlined recently, and is now more efficient than in many industrialized countries.“


Paralegals in Konfliktgebieten

Vor besonderen Herausforderungen steht das ugandische Justizwesen in Norduganda, das seit mehr als 20 Jahren von bürgerkriegsähnlicher Gewalt erschüttert wird. Die staatlichen Strukturen sind dort sehr schwach. Im Distrikt Gulu mit 600 000 Menschen sind beispielsweise nur 160 Polizisten stationiert. Die Gerichte tagen selten und unregelmäßig.

Viele Menschen hier haben von den Rechten, die ihnen die Verfassung offiziell garantiert, keine Ahnung. Aus Erfahrung wissen sie, dass es besser ist, sich von Polizisten, Milizen, Soldaten und Bewaffneten fernzuhalten. Wer in Flüchtlingscamps geboren wurde, kennt aber auch keine intakten tradierten Wertesysteme und stabilen Nachbarschafts- oder Verwandtschaftsnetzwerke. Der Alltag in den Camps ist von Frust, Perspektivlosigkeit, Krankheit und Armut geprägt. In Konflikten setzt sich meist der Stärkere durch. Einen Anwalt könnten sich die meisten nicht leisten, selbst wenn sie wüssten, was das ist. Ausgebildete Juristen sind hier ohnehin selten und können auch nicht viel bewirken.

Zivilgesellschaftliche Akteure entwickeln in dieser Lage innovative Instrumente. So bildet etwa die Kommission Justitia et Pax der katholischen Diözese Gulu 120 Paralegals aus. Das sind keine Hilfssheriffs, Billigadvokaten oder Grassroot-Richter, sondern Freiwillige mit Grundkenntnissen der bürgerlichen Rechte, der Menschenrechte, der Rechtsordnung und der Konfliktmediation. Sie sollen Streitigkeiten schlichten, Gewaltopfer über Rechte aufklären und – besonders wichtig – die Aufarbeitung schwerwiegender Verbrechen an die zuständigen Instanzen weiterleiten. Das Programm Paralegals sowie die Unterstützung von gemeinnützigen und privaten Rechtsberatungszentren (Legal Aid Clinics) wird durch ein Konsortium von bilateralen staatlichen Gebern, aber auch der internationalen Zivilgesellschaft unterstützt.

Paralegals und Legal Aid Clinics sind langfristig wichtig. Mehr als eine Million Flüchtlinge werden in ihre Heimat zurückkehren . Dann wird umstritten sein, wem welches Stück Land gehört oder wer Anspruch auf welche Wasserquelle hat. Die traditionellen Dorfstrukturen sind beschädigt, das institutionelle Gedächtnis der Dorfältesten, die solche Dinge regeln konnten, ist vielfach verloren. Der Staat wird indessen kaum in der Lage sein, in kurzer Zeit formale Ordnungssysteme zu installieren.

Obendrein muss traditionelle Rechtsprechung auf lokaler Ebene in den Blick genommen werden. Sie konfligiert immer wieder mit dem staatlichen Rechtssystem. Oft bedarf es einer pragmatischen Güterabwägung zwischen relativ zeitnaher Klärung eines Rechtsverstoßes und der Verfolgung gemäß dem formalen Strafrecht. Letztere lässt sich manchmal gar nicht – und oft nur mit erheblicher – Verzögerung realisieren.

Fazit

Wer in Uganda „mehr Recht schaffen“ will, muss alle relevanten Komponenten und Akteure in den Blick nehmen und gegebenenfalls auch unkonventionelle Wege gehen. Der Staat kann aus verschiedenen Gründen nicht immer und überall die formale Rechtsversorgung gewährleisten. Es reicht nicht, auf der legislativen Ebene oder in der Infrastruktur Verbesserungen zu unterstützen. Und es darf nicht unterschätzt werden, wie komplex ein integrierter sektorweiter Ansatz ist. Schwache Komponenten können dabei den Fortschritt des gesamten Vorhabens negativ beeinflussen. Deshalb sind innovative Schritte, die kurzfristig und sichtbar Erfolge zeigen, für die Akzeptanz des Gesamtprogramms wichtig. Es ist aufwendig, aber sinnvoll, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft in den Prozess einzubeziehen, um die Nutzersicht zu verstehen und gleichzeitig für Reformen zu werben.

Die umfassende Reform des Rechtswesens in Uganda ist eine mühsame, langwierige und kleinteilige Angelegenheit. Die ersten Erfolge zeigen aber, dass sich Anstrengungen auszahlen.

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