Fachliteratur

Der Stand der Forschung

Die Wissenschaft hat sich weitgehend von der Annahme verabschiedet, dass Entwicklung auch Auswanderung reduzieren sollte. Migration kann vielmehr zu Entwicklung beitragen. Doch eine Reihe von Fragen ist nach wie vor ungeklärt. Von Marcus Böhme
Some of the money flows back to the country of origin: Afghan restaurant in Frankfurt. Jan-Carl Kubick Some of the money flows back to the country of origin: Afghan restaurant in Frankfurt.

Schätzungen zufolge leben heute rund 215 Millionen Menschen außerhalb ihres Geburtslandes, mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus Entwicklungsländern. Im Jahr 2010 überwiesen Migranten mehr als 325 Milliarden US-Dollar in ihre Her­kunftsländer. Diese Rücküberweisungen („remittances“) sind in den vergangenen Jahren nicht nur in absoluten Zahlen stark angestiegen, sondern auch im Verhältnis zu anderen Quellen externer Entwicklungsfinanzierung. Die Höhe der Rücküberweisungen entspricht rund 219 Prozent der gesamten offiziellen Entwicklungshilfe und rund einem Viertel der weltweit getätigten ausländischen Direktinvestitionen.

Auszuwandern kann die Situation von Menschen auf Lebenszeit verbessern. Clemens et al. (2008) zeigen in einer Studie, dass eine 35-jährige Fachkraft durch Migration in die USA ihr Einkommen um bis zu
400 Prozent steigern kann. Migration kann also durchaus Entwicklung fördern. Viele Themen sind jedoch noch nicht gänzlich untersucht. Dieser Artikel beleuchtet zunächst zwei wichtige methodologische Fragen und setzt sich anschließend mit konzeptionellen Aspekten auseinander, die bislang vernachlässigt wurden.


Schwierige Datenerfassung

Die Migrationsforschung steht vor zwei großen methodologischen Herausfor­derungen. Die erste betrifft die präzise Messung von Migration und Rücküber­weisungen. Es mangelt an verlässlichen und öffentlich zugänglichen Statistiken. Da darüber hinaus unterschiedliche Institutionen mit sehr unterschiedlichen Definitionen arbeiten, ist ein Vergleich zwischen ihren Daten oft nicht möglich.

Die meisten Studien beruhen daher auf Umfragen. Aber auch solche Daten geben oftmals ein verzerrtes Bild wieder. So zeigte sich etwa, dass Migranten tendenziell den Umfang der Rücküberweisungen unterschätzen. Akee und Kapur stellen in einer Studie von 2012, die auf staatlichen Statistiken und Umfragedaten aus Indien basiert, eine große Diskrepanz zwischen den Selbstauskünften und den tatsächlichen Bankguthaben der Interviewten fest. Letztere waren fast doppelt so groß wie von den Haushalten angegeben.

Gerade auch bei der Analyse von illegaler Migration ergeben sich solche Schwierigkeiten. Nicht zuletzt deshalb wird illegale Migration nicht ausreichend untersucht. Nichtsdestotrotz stellt illegale Migration ein wichtiges Phänomen dar, das positive Effekte der legalen Migration unterminieren könnte.

Die zweite Herausforderung betrifft Ursachenforschung. Um aus wissenschaft­lichen Erkenntnissen politische Strategien abzuleiten, muss man verstehen, welche Wirkung welcher Ursache entspringt. Migranten unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von der Durchschnittsbevöl­kerung. Sie sind oftmals besonders fähig, motiviert und selbstbewusst. Man kann daher unmöglich von ihnen auf die Allgemeinheit schließen. Dies würde zu stark verzerrten Schätzungen führen, wie eine Studie von McKenzie et al. (2010) zeigt.

Aus aussagekräftigen Quantifizierungen lassen sich jedoch nicht zwangsläufig kon­krete Entwicklungsmaßnahmen ableiten. Politische Entscheidungsträger benötigen unterschiedliche Handlungsoptionen für jeden Kontext, um den größtmöglichen Nutzen aus Migration zu ziehen. Bisher existieren nur wenige Studien, die die Wirkung staatlicher Migrationsprogramme zuverlässig bewerten.

Insbesondere zwei Studien ragen hier aufgrund ihres randomisierten Interventionsdesigns und ihrer gründlichen Analyse heraus. Doi et al. (2012) bewerten die Effektivität von Programmen zur Förde­rung der Finanzkompetenz in Indonesien. Sie fanden heraus, dass Migranten und ihre Familien, wenn man sie in Finanzbelangen schult, mehr Geld sparen und ihre Finanz­planung verbessern. Von Bedeutung war dabei, wer geschult wurde: Am höchsten war der Effekt, wenn beide, Migrant und Familie, ausgebildet wurden. Auf die Gesamthöhe der Rücküberweisungen hatte die Weiterbildung keinen Einfluss.

Die zweite Studie ist von Ashraf et al. (2011). Für eine Feldstudie boten sie Emigranten aus El Salvador Bankkonten in ihrem Herkunftsland an. Diese ermöglich­ten den Besitzern jedoch einen unterschiedlichen Grad an Kontrolle über ihre Ersparnisse. Es stellte sich heraus, dass die Migranten mit der höchsten Kontrolle über ihre Ersparnisse auch über signifikant höhere Sparguthaben verfügten. Das zeigt, wie wichtig innovative Finanzdienstleistungen sind, damit Rücküberweisungen zu Entwicklung beitragen können, und dass die derzeitigen Bemühungen von Politi­kern, Rücküberweisungen auf Bankkonten zu leiten, nicht ausreichen.


Mehr als nur Rücküberweisungen

Konzeptionell dominieren Rücküberweisungen die Migrationsdebatte. Es gibt jedoch noch andere wichtige Bereiche, wie zum Beispiel die Weitergabe von Wissen, Normen und Werten, den sogenannten „sozialen Remittances“. Durch Migration kann es etwa zu einem Transfer politischer Normen kommen, der dabei hilft, politische Institutionen im Herkunftsland zu verbessern und das Wahlverhalten zu verändern. Eine Studie von Spillimbergo (2009) zeigt, dass sich im Ausland ausgebildete Menschen in ihren Heimatländern eher für Demokratie einsetzen.

Auch soziale Normen können sich ändern: Migrantenfamilien legen oftmals größeren Wert auf Bildung und sind eher dazu bereit, in Bildung zu investieren (Böhme 2012). Sie haben tendenziell auch weniger Kinder (Beine et al. 2009). Noch sind diese Kausalitäten jedoch nicht ausreichend erforscht. Die Forschung hat auch die Bedeutung von Diaspora-Gemeinschaften bestätigt, ohne die es weder monetäre noch soziale Remittances gäbe. Es gibt Hinweise darauf, dass Diaspora-Gemeinschaften auslän­dische Direktinvestitionen fördern und den Handelsverkehr steigern (siehe zum Beispiel Javorcik et al. 2011).

Dennoch tappt die Wissenschaft in wichtigen Themen wie Wissens- und Kulturtransfers sowie politökonomische Implikationen von Diasporen noch im Dunkeln. Diese Mechanismen zu erfassen wäre jedoch wichtig, denn das Engagement der Diaspora-Gemeinschaften hat häufig auch mit Patriotismus und Nationalismus zu tun.

Zirkuläre Migration ist ähnlich unzurei­chend erforscht. Obwohl Regierungen zunehmend Programme einführen, die die Rückkehr von Migranten in ihre Herkunfts­länder fördern sollen, ist nach wie vor unklar, ob diese die erwünschten Ergebnisse erzielen, wie etwa Wohlfahrts­steigerungen im Heimatland. Auch ist unklar, welche Wirkung bürokratische Hindernisse haben und ob die Sozial­leistungen im Zielland Migration beein­flussen. Üblicherweise genießen legale Migranten in ihrem Aufenthaltsland besseren sozialen Schutz als in ihrem Herkunftsland.

 

Geografische Aspekte

Ein weiteres konzeptionelles Problem ist der geografische Fokus: Die Migrationsdebatte ist oftmals auf Menschen fokussiert, die sich aus dem globalen Süden in den globalen Norden bewegen. Beinahe zwei Drittel der weltweiten Migration jedoch findet zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern statt („Süd-Süd-Migration“). Darüber hinaus gibt es massive Migrationsbewegungen innerhalb dieser Länder.

Auswanderer innerhalb des globalen Südens haben ein enormes Potenzial, wie die Studie von Bryan et al. (2012) für den Fall Bangla­deschs zeigt. Die Autoren fanden heraus, dass Menschen, die von Nichtregierungsorganisationen mit sechs bis acht US-Dollar unterstützt wurden, in der Dürreperiode im Durchschnitt 110 US-Dollar mehr verdienten als diejenigen, die in ihren Dörfern blieben. Dank der finanziellen Unterstützung durch die Migranten konnten auch deren Angehörige ihre Kalorienzufuhr um 550 bis 700 Kalorien pro Kopf und Tag steigern.

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