Social Media

Die Rettung kommt über Twitter

Seit den Aufständen in Arabien ist allen klar, dass Social Media mehr bieten als Chats und Spiele. Auch aus der Nothilfe sind sie kaum noch wegzudenken: von digitalen Rettungskarten bis zu Twitter-Ärzten.

Der Informationsdienst Ushahidi ist seit dem Erdbeben in Haiti ein wichtiges Hilfsmittel für die Arbeit der UN. In Libyen koordiniert damit auch das Rote Kreuz seine Lebensmittelversorgung. Dabei ist Ushahidi nur ein Freiwilligenprojekt. „Es war eine absolute Bauchaktion“, erzählt Patrick Meier, Initiator der Seite in Haiti. „Ich wollte einfach irgendetwas tun.“ Der Erfolg erstaunte ihn selber: „Ein paar Studenten im verschneiten Boston retteten Leben in Haiti.“

Ushahidi – das sind digitale Landkarten, auf denen Ereignisse eingetragen werden können. Die Plattform wurde im Jahr 2008 in Kenia gegründet, um Menschenrechtsvergehen nach den Wahlunruhen zu dokumentieren. Später nutzte auch Al-Jazeera das Werkzeug, um Kriegstaten in den palästinensischen Autonomiegebieten zu kartographieren. In Haiti diente Ushahidi erstmals auch der Katastrophenhilfe. Die Gründer sammelten dabei Nachrichten aus Facebook, Twitter und über eine feste Telefonnummer sogar SMS aus betroff­enen Regionen, ergänzten sie durch offizielle Medien und Mitteilungen von NROs und übertrugen alle Informationen auf eine digitale Haiti-Karte. So half Ushahidi Hilfsorganisationen, Bedürftige zu finden und mit der richtigen Ausrüstung anzurücken.

Da die meisten Nachrichten in französischer Kreolsprache vorlagen, suchten die IT-Spezialisten via Twitter nach Übersetzern. Freiwillige aus aller Welt meldeten sich. Gemeinsam schafften sie, dass jede Meldung innerhalb von zehn Minuten Englisch online war. Mittlerweile ist das Heer an Helfern zu einer festen Einrichtung auch für andere Länder geworden. In über 50 Staaten sind die 500 Ushahidi-Freiwilligen zu Hause, darunter ehemalige Nothelfer, Flughafenmitarbeiter, Ärzte.

Jüngstes Projekt von Patrick Meier ist eine Libyen-Karte. Der Leiter des UN-Informationsmanagements bat ihn darum, weil UN-Mitarbeiter sich kaum unabhängig aus den Kriegsgebieten informieren konnten. In Libyen gelten jedoch andere Regeln als sonst: Nur eine begrenzte Zahl ausgesuchter „Reporter“ darf Nachrichten senden, die auf der Karte visualisiert werden. Um Datenmissbrauch zu verhindern, wird nur mit 24 Stunden Verzögerung veröffentlicht. „Auch repressive Regime nutzen Kommunikationstechnologien für ihre Zwecke“, erklärt Meier. Im Sudan beispielsweise habe sich die Regierung auf ­Facebook als Regimegegner ausgegeben und online zu Protesten aufgerufen – um dann alle, die zu Demonstrationen erschienen, festzunehmen und zu foltern.

Krankenversorgung über Twitter

In der Elfenbeinküste wurden mit Hilfe einer Twitter-Lifeline Kranke und Verletzte in belagerten Gebieten versorgt. „So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen“, meint Claire Ulrichs, die als Global-Voices-Redakteurin und Jurymitglied der Deutsche Welle Blog Awards eigentlich viel Erfahrung hat. Sie erzählt: Als Gegner des abgewählten Präsidenten Gbagbo dessen Residenz belagerten, waren Teile der Stadt Abidjan völlig abgeschnitten. Nahrungs- und Arzneimittel gingen aus, Krankenwagen und Ärzte saßen fest. Einige Privatpersonen definierten einen Hashtag (ein Schlagwort auf Twitter), unter dessen Nennung Eingeschlossene über ihr Handy Notrufe veröffentlichen konnten. Das Rote Kreuz konnte dadurch gezielt Medizin und Hilfe in Privathaushalte bringen. Ein Flüchtling aus der Elfenbeinküste in Ghana erweiterte die Aktion noch, indem er in Akkra ein Call-Center einrichtete. Ebenfalls über Twitter gab er eine Gratis-Telefonnummer bekannt, an die sich ­Bedürftige per SMS wenden konnten. Freiwillige Helfer in Akkra riefen dann zurück und meldeten die Hilferufe weiter an Organisationen. „In einigen Fällen gaben sogar Ärzte aus dem Ausland medizinische Ratschläge über Telefon“, berichtet Ulrich.

Großer Vorteil von Twitter ist in den Augen der Blogexpertin, dass das Programm auch per Handy leicht zu bedienen sei. Das gilt selbst in entlegenen Gebieten der Sahara: Die Wüstenbewohner warnen sich damit beispielsweise vor Buschfeuern.

Gut oder böse?

Die Gemüter scheiden sich heute an der Frage: Wie viel können Social Media wirklich erreichen? Im April diskutierten gut dreitausend Teilnehmer der Berliner Konferenz „Re:publica“, unter ihnen Ulrich und Meier, über deren politische Bedeutung.

Bei den Revolutionen in der arabischen Welt, die zum großen Teil über so­ziale Netzwerke organisiert wurden, halfen neue Medien, Menschen zu mobilisieren. Nicht nur in Deutschland fragen sich Experten aber, ob das Internet die Bürger manchmal auch politisch träger macht: Es könne davon abhalten, für Anliegen auf die Straße zu gehen. Lateinameri­kaner zum Beispiel stellen zwar weltweit 10,2 Prozent aller User – sie nutzten das Internet aber kaum politisch, beklagten zwei Bloggerinnen aus Brasilien und ­Argentinien. Die fehlende politische Kultur ihrer Gesellschaft spiegele sich online wider. Latinos chatten, konsumieren und schreiben sich Witze; ihre hohe Vernetzung würde zurzeit aber keine Revolution auslösen.

Claire Ulrich begegnete während der Krise in der Elfenbeinküste auch einer grausamen Seite der neuen Medien: Online veröffentlichte Folterbilder wurden hämisch kommentiert. Social Media seien nur ein neues Werkzeug, resümiert sie. „Es sind die Menschen dahinter, die Gutes oder Schlechtes damit tun.“

Eva-Maria Verfürth

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