Kindesmisshandlung

Kriminalität zählt noch zu den besten Optionen

In Bangladesch beauftragen organisierte kriminelle Gruppen Straßenkinder damit, schwere Verbrechen zu begehen. Sie tragen Waffen, verkaufen Drogen, fordern Erpressungsgelder ein und begehen politische Gewalttaten. Einige Jugendliche haben mit Landraub und sogar Auftragsmorden zu tun. Diese Kinder und Jugendlichen sollten als illegale Kinderarbeiter betrachtet werden – sie sind weder völlig unschuldige Opfer noch echte Kriminelle. Es muss mehr getan werden, um ihre Rechte zu schützen und die Zunahme organisierter Kriminalität einzudämmen.
„Die Frage ist, wie diese Kinder besser geschützt werden können.“ Sally Atkinson-Sheppard „Die Frage ist, wie diese Kinder besser geschützt werden können.“

In fast jedem Land der Welt gibt es Straßenkinder – in Bangladesch besonders viele. Das Bangladesh Institute of Development Studies (BIDS) schätzt, dass es 1,5 Millionen Straßenkinder im Land gibt, mit deutlich zunehmender Tendenz. Laut UNICEF umfasst der Begriff Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren.

Polizei und Hilfsorganisationen in Bangladesch haben ähnliche Statistiken veröffentlicht. Besonders in Dhaka ist die Lage dramatisch. Von den 16 Millionen Bewohnern der Hauptstadt leben 10 Millionen in Slums oder auf der Straße, darunter viele Kinder. Die Urbanisierung verschärft die Probleme: Millionen von Menschen ziehen zur Jobsuche vom Land in die Stadt. Bangladeschs Straßenkinder leben in bitterer Armut, auf der Straße oder in Slums in Notunterkünften. Sie haben keine Chance, ihre Rechte einzufordern, sie kämpfen um Bildung und sind von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Viele Straßenkinder müssen arbeiten. In Bangladesch sind sie oft das letzte Glied in organisierten kriminellen Gangs. Organisiertes Verbrechen ist in Dhaka weit verbreitet. Die Bosse werden „Mastaans“ genannt, ihre Gangs operieren in Slums im ganzen Land und besonders in der Hauptstadt. Über diese Gangs gibt es wenig verlässliche Informationen, aber Studien legen nahe, dass die Mastaans die Armenviertel der Stadt kontrollieren. Slumbewohner haben nur Zugang zu Grundversorgung, wenn sie Wucherpreise für Wohnung, Gas, Strom und Wasser an die Mastaans zahlen.

Da so wenig über das organisierte Verbrechen und die Rolle der Straßenkinder bekannt war, habe ich eine dreijährige eingehende Studie in Dhaka durchgeführt. Dazu gehörten teilnehmende Beobachtung im Strafjustizsystem, 80 Interviews mit Erwachsenen und eine einjährige Fallstudie mit 22 Straßenkindern. Wegen ihrer gesellschaftlichen Rolle und der Art „Sozialschutz“, die sie bieten, betrachte ich Mas­taan-Gangs als Mafia-Organisationen.

Wie im organisierten Verbrechen typisch, begehen sie mannigfaltige Straftaten, darunter Waffenschmuggel, Drogen- und Menschenhandel. Sie erpressen auch Schutzgeld – nach Ansicht vieler Forscher das ausschlaggebende Merkmal von Mafia-Organisationen. Die von mir erhobenen Daten deuten darauf hin, dass Mastaan-Gangs landesweit, hauptsächlich aber in städtischen Gebieten wie Dhaka, operieren. Eines der Kinder aus meiner Studie erklärte: „Es gibt einen Chef, den Anführer der Gruppe, und Jobs für verschiedene Leute. Beispielsweise gehst du zum Markt und klaust etwas Bestimmtes, oder du gehst in einen Laden und klaust eine andere Sache. Die Jungs klauen etwas und geben es ihrem Chef. Das ist ihr Job, so verdienen sie etwas Geld.“ Die Hierarchien und Strukturen der Mastaan-Gangs mit Bossen und verschiedenen Rängen geben den Kindern das Gefühl, teil eines Unternehmens zu sein, wenn auch eines kriminellen.

Meine Arbeit zeigt, wie Dhakas Straßenkinder von Mastaans angeheuert werden, um Waffen zu tragen und Drogen zu verkaufen. Außerdem werden Kinder beauftragt, „Zölle“ von Slumbewohnern einzufordern – dafür, dass sie dort leben oder um Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu erhalten. Ein weiteres „Geschäft“, in das sie involviert werden, ist Landraub. In vielen Slums ist Land viel wert, und Landrechte sind nicht geschützt. Der Kampf um Land ist zu einer vorherrschenden Beschäftigung organisierter krimineller Gruppen geworden. Mastaans stellen Kinder ein, damit sie Gebiete in Slums besetzen, um die Landbesitzer zur Aufgabe ihres Eigentums zu bringen. Straßenkinder werden auch für politische Gewalt und sogar für Auftragsmorde engagiert. Ein jugendlicher Teilnehmer an meiner Studie sagte: „Du kannst jemanden anheuern, um jemand anderes für dich zu töten. Du kannst einen Zehnjährigen mit einem Mord beauftragen! Aber du kannst auch größere Kinder anheuern. Das Alter ist nicht festgelegt, es kommt eher darauf an, wie viel du bezahlen kannst. Aber es ist möglich, jemanden für Mord zu bezahlen, es ist sogar sehr einfach.“


Passenderer Begriff

Kinder, die Mitglieder von Mastaan-Gangs sind, werden oft als unschuldige Opfer betrachtet, die um des puren Überlebens willen ins organisierte Verbrechen gezwungen werden. Das ist zwar nicht ganz falsch. Meine Arbeit in Dhaka zeigte jedoch ein komplexeres Szenario. Tatsächlich haben Straßenkinder eine gewisse Wahlfreiheit. Sie sehen die Zugehörigkeit zu Mastaan-Gangs oft als Möglichkeit, Geld zu verdienen und eine gewisse soziale Integration innerhalb der Gruppe zu erlangen. Der Begriff „Opfer von Ausbeutung“ erfasst diesen Aspekt nicht.

Doch auch Begriffe wie „Bandenmitglied“ oder „Kriminelle“ sind unpassend. Sie beschreiben nicht die akute Armut, Not und Abhängigkeit, die die Kinder zu kriminellen Banden treiben. Meiner Ansicht nach sollten diese Kinder als „illegale Kinderarbeiter“ gesehen werden. Diese Bezeichnung spiegelt die Art der Arbeit wider, die Straßenkinder verrichten, und auch, warum sie das tun.

Die Frage ist, wie diese Jugendlichen besser geschützt werden können. Millionen von Kindern in Bangladesch – und in vielen anderen Ländern der Welt – arbeiten in kriminellen Gruppen. Sie werden ausgebeutet und missbraucht, aber sie wählen diesen Lebensstil bewusst. Es ist die in ihrer desperaten Lage beste Option. Ihre Not ist kaum bekannt, daher ist es das Wichtigste, innerhalb und außerhalb Bangladeschs auf dieses Problem aufmerksam zu machen.

Die Gesetzgebung ist ein weiteres Problem. Es gibt viele Gesetze zum Schutz von Kinderarbeitern und Kindern allgemein; diese berücksichtigen jedoch keine Kinder, die organisierte Verbrechen begehen. Als schlimmste Form von Kinderarbeit benennt etwa die Internationale Arbeitsorganisation Drogenhandel und -schmuggel – Minderjährige, die politische Gewalt, Erpressung oder Auftragsmorde begehen, kommen dabei nicht vor.

In Bangladesch wird einiges getan, um Straßenkinder zu schützen. Das neue Kindergesetz belegt das ebenso wie eine Fülle von Initiativen des Staates und der zahlreichen NGOs, die im Land aktiv sind. Dennoch werden Kinder weiterhin von Mas­taans und im Rahmen der organisierten Kriminalität allgemein ausgebeutet und misshandelt. Es bedarf umfassenderer, globaler Herangehensweisen und eines übergreifenden panasiatischen Verständnisses. Die Verwicklung von Kindern in organisierte Kriminalität sollte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene angegangen werden – anders wird es nicht möglich sein, Kinder zu schützen und die Ausbreitung der organisierten Kriminalität zu stoppen.


Sally Atkinson-Sheppard ist Kriminologin, Strategin und internationale Beraterin. Mit ihrer Arbeit über die Beteiligung von Kindern am organisierten Verbrechen in Dhaka erwarb sie ihren Doktortitel am King’s College in London.
sallyatkinsonsheppard@gmail.com


Quellen

Atkinson-Sheppard, S., 2017: Street children and „Protective Agency“. Exploring young people’s involvement in organised crime in Dhaka, Bangladesh. Childhood. Vol. 24 (3):1-14.
Atkinson-Sheppard, S., 2017: Mastaans and the market for social protection. Exploring Mafia groups in Dhaka, Bangladesh. Asian Journal of Criminology. 1-19 Advance online publication. doi: 10.1007/s11417-017-9246-9.
Atkinson-Sheppard, S., 2016: The gangs of Bangladesh. Exploring organised crime, street gangs and „illicit child labourers“ in Dhaka. Criminology and Criminal Justice. Vol. 16(2) 233–249.
 

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