Sozialisation

Abwesende Väter

Sozialen Konventionen zufolge sollen Männer hart und durchsetzungsfähig sein. Das traditionelle Verständnis von fürsorglicher Vaterschaft geht immer mehr verloren. In Südafrika haben Jungen wegen der schwierigen ökonomischen Situation kaum Perspektiven. Die Erwartungen, mit denen sie aufwachsen, sind oft destruktiv.
Wenn Jungen überhaupt Spielzeug bekommen, sind es Plastikpistolen. Hrusa/picture-alliance/dpa/dpaweb Wenn Jungen überhaupt Spielzeug bekommen, sind es Plastikpistolen.

Mein erstes Kind wurde 2018 geboren. Während der Wehen massierte ich meiner Frau den Rücken. Da fragte eine der Krankenschwestern, ob ich bis zur Geburt bleiben wollte. Das tat ich. „Sogar auf der Entbindungsstation?“, fragte sie. Und auf meine positive Antwort hin sagte sie: „Dafür sind Xhosa-Männer nicht gemacht.“ Die Xhosa sind die zweitgrößte Ethnie in Südafrika und leben an der Küste des Indischen Ozeans zwischen Port Elizabeth und Durban.

Ich blieb, bis meine wunderschöne Tochter das Licht der Welt erblickte, und hatte die Ehre, ihre Nabelschnur zu trennen. Es war für mich und meine Partnerin eine positive Erfahrung. Wir denken, dass sie zur Normalität werden sollte. Ich habe erlebt, dass Frauen stark sein können und viel aushalten – aber auch, dass ihnen Unterstützung guttut. Wir haben die Erfahrung zusammen gemacht. Das ist wichtiger, als männliche und weibliche Lebenswelten zu trennen.

Ich habe bereits in E+Z/D+C (siehe Schwerpunkt des e-Papers 2016/07) verquere Vorstellungen von Männlichkeit in Südafrikas Gesellschaft dargestellt. Hier möchte ich nun einige Auswirkungen schildern.

Die heutigen Muster der genderspezifischen Sozialisation wurzeln tief in der Kolonialgeschichte. In einem Jahrhunderte währenden Kampf verloren die Xhosa ihr Land und ihre Herden an holländische und britische Siedler und Kolonialherren. Die Xhosa-Männer wurden zu Migranten, die an weit entfernten Orten in Minen arbeiteten. Dort durften ihre Familien nicht hinkommen. Die Rassentrennung der Apartheid führte zu repressiven Gesetzen.

Xhosa-Jungen wuchsen häufig in weiblich geprägten Haushalten ohne männliche Vorbilder auf. Kamen die Väter aus den Minen zurück, waren sie in der Regel krank. Sie litten an Staublungen und anderen Atemwegserkrankungen. Die Arbeitsbedingungen waren grausam.

Heute – 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid – lebt fast die Hälfte der südafrikanischen Kinder mit ihren Müttern auch ohne ihre Väter. Das liegt nicht nur an Binnenmigration, sondern hat mehrere Gründe. Viele junge Männer sind arm und arbeitslos. Der traditionelle Brautpreis ist für sie unerschwinglich, also können sie nicht heiraten. Da sie auch die traditionell übliche Buße für die Zeugung eines unehelichen Kindes nicht zahlen können, unterbindet die Familie der Mutter den Kontakt zum Kind. Auch wachsen viele Kinder bei den Großeltern auf – zum Beispiel, weil ihre Eltern oder die allein erziehende Mutter Geld verdienen müssen.

Viele Kulturen haben Vorstellungen vom erwachsenen Mann als fürsorglichem Ernährer der Familie. Ob ein Mann dem gerecht werden kann, hängt in modernen Gesellschaften meist von seinem Bildungserfolg ab. In Südafrika sind die Privatschulen oft exzellent, jedoch für die große Mehrheit der schwarzen Bevölkerung unbezahlbar. Es gibt auch nicht genug Privatschulen für alle Schüler. Die staatlichen Schulen sind durchweg schlechter als die privaten. Manchmal kommen auf eine Lehrkraft 90 Lernende. Die Schulen sind schlecht ausgestattet, und viele sind in schlechtem Zustand. Die Hälfte der südafrikanischen Jugendlichen schließt die High School nicht ab – und die Mehrheit von ihnen sind Jungen.

Verwandte Probleme sind Drogenkonsum und Jugendkriminalität. Die Nachrichten berichten ständig von Morden. Mitunter wird ein junger Mensch nur wegen eines Handys getötet. Gewaltvideos machen in sozialen Medien die Runde. Gangs sind für perspektivlose junge Männer attraktiv.

Die südafrikanische Gesellschaft bereitet junge Männer nicht angemessen dar­auf vor, als Erwachsene Verantwortung zu übernehmen. Die Vorstellungen von Männlichkeit sind verzerrt. Bekommen Jungen überhaupt Spielzeug, werden sie mit Plastikwaffen ausgestattet. Als ich klein war, waren wir arm und haben selbst Spielsachen gebastelt. Wir ließen Autos aus Draht über imaginierte Schnellstraßen fahren. Das tun Jungs auch heute noch, aber das Bild vom Mann scheint immer stärker von Gewalt geprägt.


Härte reicht nicht

Auch Initiationsriten spielen eine Rolle. In vielen ethnischen Gruppen sind sie ähnlich. Bei den Xhosa beinhalten sie die schmerzhafte Beschneidung ohne Betäubung, die Jungen lehren soll, keine Angst vor Schmerzen zu haben. Früher mussten Xhosa-Männer kämpfen, wenn das nötig wurde.

Die Erziehung zu Härte lebt fort. Aber es ging früher bei den Initiationsriten um viel mehr. Nelson Mandela – Freiheitskämpfer, erster schwarzer Präsident Südafrikas und wohl der berühmteste Xhosa überhaupt – schrieb, dass die Initiation Jungen zu verantwortungsvollen Männern machen sollte. Das schloss ein, sich um andere zu kümmern. Die traditionelle Initiation dauert mehrere Wochen, in denen auch Solidarität und Kooperation trainiert wurden. Hierauf sollte in Zukunft unser Fokus liegen.

Unsere Gesellschaft würde davon profitieren, Genderrollen zu überdenken. Heutige Rollenvorstellungen wurzeln in der traumatischen Geschichte von Kolonialherrschaft und Apartheid. Es gilt, historisch entstandene Ungerechtigkeiten zu überwinden. Ohne Wiedergutmachung wird sich die Mehrheit der schwarzen Männer weiterhin machtlos fühlen. Oberste Priorität muss Chancengleichheit durch gute Bildung für alle jungen Menschen werden. Dafür brauchen wir gut ausgebildete Lehrer. Derweil sollte die Gesellschaft schwarzen Jugendlichen mit Geduld und Freundlichkeit begegnen, denn ihr Schicksal ist nicht leicht.

Südafrikas Gesetze sind in vielfacher Hinsicht fortschrittlich. Die Rechte von Homosexuellen werden beispielsweise ausdrücklich anerkannt, was in einigen Nachbarländern nicht der Fall ist (siehe Grace Badza im Schwerpunkt des e-Papers E+Z/D+C E+Z 2019/07). Traditionelle Ethnien lehnen dagegen Schwule und Lesben oft ab. Wichtig ist also auch kultureller Wandel.

Traditionell ausgerichtete Gemeinschaften müssen sich an moderne Zeiten anpassen. Es ergibt keinen Sinn, auf unbezahlbaren Brautpreisen zu bestehen. Wichtig ist dagegen, Jugendliche zu fürsorglichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Eltern, Lehrer, traditionelle Oberhäupter und die älteren Generationen müssen sich dafür einsetzen. Und je besser das gelingt, desto weniger ungewöhnlich wird es sein, wenn ein Xhosa-Mann seine Frau in den Kreißsaal begleitet.


Sonwabiso Ngcowa ist Schriftsteller und Sozialwissenschaftler.
sonwabisongcowa@gmail.com

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