Banken

Erfundene Geschichten

Weil Finanzmärkte große Bedeutung für die Weltwirtschaft haben, ist die ethnografische Forschung von Stephan Leins in einer Schweizer Bank entwicklungspolitisch relevant. Er hat untersucht, wie Finanzanalysten arbeiten und wie sie die Welt sehen.
Der Paradeplatz liegt im Herzen des Zürcher Bankenviertels. Della Bella/picture-alliance/KEYSTONE Der Paradeplatz liegt im Herzen des Zürcher Bankenviertels.

Westliche Wissenschaftler haben die Methoden der ethnografischen Feldforschung entwickelt, um exotische Kulturen zu ergründen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie aber zunehmend genutzt, um zu verstehen, wie hochqualifizierte Berufe in reichen Ländern funktionieren. Leins hat sich zum Zweck der teilnehmenden Beobachtung als Ethnologe unter die Finanzanalysten einer Bank in Zürich gemischt.

Sein kürzlich veröffentlichtes Buch „Stories of Capitalism“ zeigt, dass deren professionelle Leistung hochgradig subjektiv ist. Die Kapitalmarktexperten stützen sich auf eine Vielfalt von Informationen aus wissenschaftlichen Studien, Unternehmensberichten, der Wirtschaftspresse, Aktienkursen und dergleichen mehr. Es gibt aber keine klaren Regeln darüber, wie diese Fakten zu interpretieren sind und welche am wichtigsten sind.

Leins zufolge entwerfen die Analysten Narrative darüber, wie sich bestimmte Finanzanlagen entwickeln werden. Die derart erfundenen Geschichten untermauern sie dann mit passenden Daten. Wie Leins ausführt, erzählen die Fakten selbst keine Geschichten. Sie werden vielmehr für Narrative verwendet. Aus vielfältigen Quellen passende Daten für die eigenen Hypothesen zu sammeln heißt im Fachjargon „Data-mining“.

In mehrfacher Weise ist die Arbeitsweise der Analysten opportunistisch. Die wichtigsten Punkte sind:

  • Finanzanalysten achten darauf, dass sie nicht allzu weit vom Branchenkonsens abweichen. Diese Haltung bietet Schutz, denn wenn sich eine Vorhersage später als falsch erweist, können sie darauf hinweisen, dass andere die Dinge ähnlich gesehen haben wie sie selbst.
  • Die Analysen, die sie liefern, müssen der Weltsicht und den Erwartungen ihrer Zielgruppe entsprechen, denn diese soll überzeugt werden.
  • Letztlich geht es darum, zu Investitionen anzureizen. Schreckensszenarien taugen dafür nicht, es müssen also gute Erträge in Aussicht gestellt werden.

Diese Einsichten sind nicht völlig neu. Sie sind denen, die mit Finanzmärkten zu tun haben, grundsätzlich bekannt. Leins bestätigt mit detaillierten Beobachtungen aus dem Alltag weitverbreitete Annahmen darüber, wie diese Profession tickt.

Leins stellt die Legitimität der Arbeit der Finanzanalysten nicht infrage. Seiner Meinung nach braucht die Volkswirtschaft deren Erzählweise, um mit einer unbekannten Zukunft umgehen zu können. Die Finanzanalysten tun ihr Bestes, Entwicklungen vorherzusagen, und hoffen, Recht zu behalten. Allerdings geht es mehr um Intuition und Glauben als um präzise Analyse von Daten nach streng definierten Regeln.

Der subjektive Charakter dieser Arbeit hilft, zu erklären, weshalb die Finanzkrise, die vor zehn Jahren an der Wall Street begann, so überraschend schien. Die Fachwelt wusste, dass sich Probleme türmten, aber ihre Mitglieder versicherten einander, es sei möglich, sie im Griff zu behalten. Die Krise erschütterte zwar das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzwirtschaft, aber an den Geschäftsmodellen der Branche änderte sich wenig.

Die meisten Sozialwissenschaftler wissen, dass Märkte menschliche Erwartungen widerspiegeln. Ökonomen tun dagegen gerne so, als gehe es um etwas Ähnliches wie Naturgesetze. Leins belegt, dass Finanzanalysten diese Illusion nicht teilen. Wie Marktteilnehmer auf neue Informationen reagieren, kann sehr unterschiedlich ausfallen, und das richtig zu erraten ist für diese Berufsgruppe ebenso wichtig, wie die grundlegenden ökonomischen Trends zu verstehen. Wenn unrealistische Erwartungen eine Spekulationsblase schaffen, kann es sogar vernünftig sein, die entsprechenden Papiere weiter zu kaufen. Profite maximiert, wer diese Anlagen genau rechtzeitig vor dem Platzen der Blase zu dem höchstmöglichen Kurs verkauft. Rationale Investoren können also durchaus irrationale Trends durchschauen und trotzdem weiter verstärken.

Ökonomen erfinden gern Modelle, die auf der unrealistischen Grundprämisse aufbauen, menschliches Verhalten sei völlig rational. Sie sollten Leins' Buch lesen. Es zeigt, dass ihre Disziplin eine Sozialwissenschaft ist.


Buch
Leins, S., 2018: Stories of Capitalism – Inside the Role of Financial Analysts. Chicago: University Press.

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