Populäre Musik

Die Nationalsprache Jamaikas

In Jamaika ist Englisch nach wie vor die offizielle Sprache; in den Schulen wird Standard-Englisch unterrichtet. Lange Zeit war die lokale Kreolsprache, das so genannte Patois, die Sprache der Landbevölkerung und der Ungebildeten. Sie wurde als „schlechtes Englisch“ betrachtet. Heute jedoch wird sie von einer lebendigen Popkultur benutzt – mit globalem Widerhall.
Bob Marley-Poster bei einem Reggae-Festival 2016 in Abidjan, Elfenbeinküste. Koula/picture-alliance/EPA Bob Marley-Poster bei einem Reggae-Festival 2016 in Abidjan, Elfenbeinküste.

Patois drückt die Identität der Menschen aus. In den frühen 1960er-Jahren, um die Unabhängigkeit herum, begann es sich stärker durchzusetzen. Jamaikaner zeigten ihren Stolz auf ihre Kultur und ihre Sprache. Patois wurde zunehmend als eine nationale Sprache betrachtet, die die hybride Kultur der Insel repräsentierte, mit ihrem englischen Vokabular, westafrikanischer Grammatik, einzelnen indigenen Worten und einer besonderen, definitiv nichtbritischen Aussprache. Kulturwissenschaftler wie Rex Nettleford weisen darauf hin, dass die jamaikanische Identität durch orale Traditionen geformt wurden.

Die lokale Dichterin, Volkskundlerin und Schauspielerin Louise Bennett, bekannt als „Miss Lou“, war eine der ersten Künstlerinnen, die in den 1960er-Jahren auf Patois schrieb und auftrat. Zwanzig Jahre lang hatte sie eine populäre Radiosendung, die sehr dazu beitrug, das Konzept des jamaikanischen Creole als Nationalsprache zu etablieren. In den 1980ern schrieben und lasen Dichter wie Linton Kwesi Johnson, Michael Smith und Mutabaruka in Patois. Zu diesem Zeitpunkt bedeutet dies bereits, eine klare antikoloniale, antirassistische Haltung einzunehmen.

Jamaika ist eine kleine Insel, aber sie ist zu einer globale Supermacht im Bereich des kulturellen und linguistischen Einflusses gewachsen, in erster Linie durch seine Musik: Songs haben die jamaikanische Sprache in alle Welt exportiert.

Schon immer nutzte jamaikanische Populärmusik sowohl Creole als auch Englisch. Dies galt vor allem für Reggae. Der jamaikanische Geschichtsprofessor Edward Kamau Brathwaite nennt sie „den ursprünglichen Klang einer Kulturrevolution, die schließlich bis zu Bob Marley führte“.

1974 nahm der Reggaemusiker Bob Marley den Song „Them Belly Full“ auf. Der Refrain kommentiert mit Volksweisheiten in jamaikanischem Patois, während der englische Text soziale Missstände anprangert, wie etwa die steigenden Lebenshaltungskosten. Dort heißt es: „Eine hungrige Menge ist ein wütender Mob“ und dass „die Schwachen stark werden müssen“. Im Refrain sind zwei typische jamaikanische Sprichwörter in der lokalen Kreolsprache, wo es heißt „Rien a faal bot di doti tof“ (Der Regen fällt, aber die Erde ist hart) und „Pat a bwail bot di fuud no nof“ (Der Topf kocht, aber das Essen reicht nicht). Seit diesem Song nutzten Musiker zunehmend Kreolsprachen.

In den 1980ern kam ein neues Genre der jamaikanischen Musik auf: Dancehall, wo Sprache eher gesprochen als gesungen wurde. Da Patois die Hauptsprache für gesprochene Interaktion ist, dominierte sie dieses Genre. Inzwischen ist sie die zentrale Sprache im künstlerischen Kontext und reflektiert das wachsende nationale Bewusstsein seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1962.

Aufnahmetechniken erleichtern die Verbreitung von Patois heutzutage in einer ähnlichen Weise, wie die Druckerpresse die Entstehung der heutigen europäischen Nationalsprachen ermöglicht hat. Im 15. und 16. Jahrhundert wurden lokale Mundarten in Europa kodifiziert und trugen dann das Ihrige dazu bei, nationale Identitäten zu definieren. Aufnahmen von jamaikanischer Populärmusik von Millie Small über Marley bis Shabba Ranks, Vybz Kartel und Chronixx, repräsentieren ein Werk von oraler künstlerischer Sprache, die dazu beiträgt, ein nationales Bewusstsein der Jamaikaner zu definieren. (hd)

 

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