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Kein Fortschritt ohne Indien

Die Größe Indiens, sein anhaltendes Bevölkerungs- und sein dynamisches Wirtschaftswachstum bringen extreme Herausforderungen mit sich. Ohne den Subkontinent sind globale Ziele nicht zu erreichen. Das macht Indien zu einem strategischen Partner und entwicklungspolitisch zu einem der wichtigsten Länder der Welt. Deutschland trägt dem Rechnung.
Ein grünes und sauberes Delhi war auch schon vor fünf Jahren das erklärte Ziel, als dieses Foto entstand. Seitdem ist die Luft deutlich schlechter geworden. Kalaene/picture-alliance/ZBr Ein grünes und sauberes Delhi war auch schon vor fünf Jahren das erklärte Ziel, als dieses Foto entstand. Seitdem ist die Luft deutlich schlechter geworden.

Indien wird China in den nächsten Jahren als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen. Seine Volkswirtschaft ist – kaufkraftbereinigt – die drittgrößte der Welt und wächst stark. Das bringt große Herausforderungen mit sich. Indien hat heute schon die weltweit dritthöchsten Treibhausgas­emissionen und dürfte in den nächsten 20 Jahren die mit Abstand größten Emissionszuwächse haben. Zugleich hat es mit 400 Millionen Menschen die meisten Armen – so viele wie ganz Subsahara-Afrika.

Indien steht zugleich der wohl gewaltigste Urbanisierungsprozess der Menschheit bevor: In den nächsten 15 Jahren wird die Bevölkerung der indischen Städte von 370 Millionen auf mehr als 510 Millionen Menschen wachsen. Bis 2050 kommen voraussichtlich weitere 250 Millionen dazu. Heute leben etwa 65 Millionen Inder unter erbärmlichen Bedingungen in städtischen Slums. Zugleich ist die Umweltbelastung enorm und weiter wachsend: Auf der WHO-Liste der Städte mit der schlimmsten Luftverschmutzung weltweit sind unter den ersten zwanzig gleich zehn indische Städte.

Diese Zahlen machen deutlich: Ohne Indien ist die Lösung globaler Herausforderungen, wie sie von der Agenda 2030, der Weltklimakonferenz oder Habitat III angegangen werden, nicht möglich. Indien ist immer noch ein klares Entwicklungsland mit erheblichem Abstand beispielsweise zu Brasilien oder Südafrika. Das macht Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Indien nicht nur wichtig, sondern notwendig.

Dass Indien zugleich auch Atommacht, Software-Riese und der zweitgrößte Absatzmarkt für Smartphones ist und außerdem bereits Satelliten in die Marsumlaufbahn schickt, entkräftet dies nicht. Vielmehr zeigt sich daran, dass Indien seine Entwicklung in die eigene Hand nehmen und auch internationale Verantwortung übernehmen muss.

Das geschieht auch. Internationale Entwicklungsgelder machen schon heute nur 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Entwicklungshilfe wirkt in Indien – noch mehr als in den meisten anderen Entwicklungsländern – vor allem qualitativ: Sie übernimmt keine kompletten Aufgabenbereiche, sondern gibt Anstöße und vermittelt Knowhow.

Diese Anstöße sind in dem hochkomplexen politischen, sozialen und kulturellen Umfeld des Subkontinents keine Selbstläufer. Einerseits müssen sie nachgefragt sein: Indien ist selbstbewusst und will Unterstützung fast nur dort, wo es eigene Entwicklungsprioritäten setzt und in große nationale Reformprogramme gießt. Die Regierung fragt dann gezielt bei den Partnern an, die ihr am kompetentesten scheinen. Die Bundesregierung ist das beispielsweise bei den Themen Energiewende, nachhaltige Produktion, umweltfreundlicher Transport und berufliche Bildung.

Andererseits müssen die Anstöße sichtbar sein – politisch ebenso wie in Bezug auf ihre Wirkungen. Mit Kleinmaßnahmen und Pilotprojekten ist es meist nicht getan. Size matters. Die indische Regierung hat sich vor einigen Jahren von einer Reihe von Gebern verabschiedet und sagt sehr offen, dass sie sich von jedem der verbliebenen Entwicklungspartner einen Umsatz in Höhe von mindestens 1 Milliarde Dollar pro Jahr wünscht.

Deutschland kann das erfüllen, weil vergleichsweise geringe Haushaltsmittel in der Finanziellen Zusammenarbeit enorme Marktmittel hebeln. Die Zusagen für Indien liegen dadurch seit 2013 bei jährlich über 1 Milliarde Euro. In keinem anderen Land der Welt mobilisiert die deutsche EZ auch nur annähernd so viel Geld für Entwicklung. Deutschland ist in Indien der zweitgrößte bilaterale Geber nach Japan.

Politische Sichtbarkeit wiederum entsteht durch besondere Formate – im deutsch-indischen Fall vor allem durch die alle zwei Jahre stattfindenden Konsultationen auf Ebene der Regierungschefs und durch das deutsch-indische „Energieforum“, das sich jährlich trifft. Die zwei wichtigsten „Leuchttürme“ der deutschen EZ in und mit Indien betreffen die Themen erneuerbare Energien/Klimaschutz und nachhaltige Stadtentwicklung (siehe Kasten).

Konzentration und Schwerpunkte sind notwendig, wenn die deutsche EZ Wirkung erzielen und sichtbar machen will. Aber sie braucht auch Gestaltungsspielraum und muss auf sich kurzfristig bietende Möglichkeiten reagieren können. Zum Beispiel ist mit Hilfe Deutschlands die Krankenhausversicherung RSBY (Rashtriya Swasthya Bima Yojana) zustande gekommen. Innerhalb weniger Jahre haben dadurch 140 Millionen Menschen in einkommensschwachen indischen Familien erstmals eine Versicherung bekommen.

Es gibt jedoch auch wichtige Bereiche, in denen die staatliche EZ in Indien nicht aktiv ist. Die Benachteiligung von Frauen, die Ausgrenzung großer sozialer Gruppen wie Indigene oder Kastenlose, Arbeitnehmer- und soziale Rechte einschließlich Kinderarbeit und auch Governance-Themen sind für die künftige Entwicklung Indiens zentral. Zugleich sind sie aber politisch und gesellschaftlich extrem sensibel und werden daher von staatlicher Seite kaum aktiv nachgefragt. Hierfür ist zivilgesellschaftliches Engagement wichtig. Da Indien über unzählige, oft sehr kompetente NGOs verfügt, gibt es gute Partnerstrukturen. Die Zahl und das Finanzvolumen von Projekten, die von deutschen und internationalen NGOs gefördert werden, dürften in keinem anderen Land der Welt höher sein als in Indien. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) kofinanziert NGO-Vorhaben, und zwar nirgends mehr als in Indien. Zwei Beispiele für NGO-Aktivitäten, die Fördermittel aus dem BMZ erhalten:

  • Terre des Hommes arbeitet zusammen mit seinem indischen Partner an der Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen in der südindischen Textilindus­trie. Das Vorhaben umfasst medizinische und psychologische Versorgung, Weiterbildung beziehungsweise Umschulung und Aufklärungsarbeit. Terre des Hommes leistet hier etwas, das in der staatlichen EZ so bislang kaum möglich war. Ob sich das ändert, wird sich zeigen. Derzeit ist ein politischer Dialog zwischen den Akteuren im Bundesstaat Tamil Nadu (Staat, Unternehmer, Arbeiter, NGO) und den Akteuren des deutschen Textilbündnisses in Vorbereitung, der mittelfristig zu gemeinsamen Zielen und Aktivitäten führen könnte.
  • Die Salesianer von Don Bosco sind der größte private Berufsbildungsträger Indiens. Sie unterhalten dort 123 Berufsschulen und bilden im Rahmen von „Don Bosco Tech India“ aktuell 55 000 Jugendliche aus. Die Arbeit der Salesianer ist landesweit bekannt und anerkannt, insbesondere ihre enge Kooperation mit Unternehmen in der beruflichen Bildung. Das ist eine wesentliche Schnittstelle zur Reform der indischen Berufsausbildung, die Deutschland auf Nachfrage der indischen Regierung derzeit unterstützt. Ziel ist es, einen wachsenden Teil der 15 Millionen jungen Menschen, die Jahr für Jahr neu auf den indischen Arbeitsmarkt drängen, durch duale Ausbildung in Unternehmen fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Beides ergänzt sich sehr gut: politische Beratung auf Ebene der staatlichen EZ einerseits, Ausbau und Verbesserung der Berufsbildungseinrichtungen auf Ebene der nichtstaatlichen EZ andererseits.

Leider kontrolliert der indische Staat zunehmend insbesondere diejenigen NGOs, die zu bürgerlich-politischen Rechten arbeiten. Manche Arbeitsbereiche – zum Beispiel die direkte Zusammenarbeit von (internationalen) NGOs mit Gewerkschaften – sind ausdrücklich untersagt, andere werden durch bürokratische Hürden bisweilen sehr erschwert.

Und doch ist auch in diesem Bereich der EZ in Indien weiterhin vieles möglich und einiges ausbaufähig. Es könnte sinnvoll sein, die deutschen Instrumente zur Förderung von NGOs zu ändern oder zu ergänzen, etwa hin zu thematischer oder regionaler Ausrichtung. Wenn das BMZ beispielsweise zusätzliche Mittel für NGOs bereitstellen würde, die in Indien oder in ganz Süd­asien in Themenfeldern wie „Frauenrechte“ oder „Förderung von Solarenergie für arme Haushalte und Kommunen“ arbeiten wollen, könnte das viel bewirken.


Wolfram Klein leitet das Referat für Indien und Südasien im BMZ. Er vertritt hier seine eigene Meinung.
wolfram.klein@bmz.bund.de

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