Internationale Finanzinstitution

Soziales Wesen

Die Weltbank rückt von einem ökonomischen Standardkonzept ab. Ihr aktueller World Development Report betont die Bedeutung soziologischer und psychologischer Faktoren.
Gemeinschaftliches Handeln ist wichtig: peruanische Landfrauen. Dembowski Gemeinschaftliches Handeln ist wichtig: peruanische Landfrauen.

Die Volkswirtschaftslehre ringt mit ernsthaften Selbstzweifeln. Einflussreiche internationale Institutionen rücken mittlerweile von orthodoxen Positionen ab. Der Grund ist sicherlich das Ausmaß der globalen Finanzkrise, die 2008 mit dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers begann.

Der Internationale Währungsfonds gibt in wachsendem Maße zu, dass die Austeritätspolitik nicht funktioniert wie erhofft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zielt zunehmend darauf ab, Ungleichheit zu bekämpfen, anstatt wie gewohnt darauf zu beharren, dass Wachstum allen dient.  

Nun weicht auch die Weltbank von etablierten Modellen ab. Ihr Ende 2014 veröffentlichter World Development Report 2015 stützt sich auf psychologische und soziologische Argumente. Er räumt ein, dass der „Homo oeconomicus“ – das Modell des rationalen, nutzenmaximierenden Individuums, auf das sich die Ökonomie stützt – eine Fiktion ist, die in dreierlei Hinsicht nicht der Realität entspricht:   

  • Menschen wägen nicht jede Entscheidung rational ab, sondern handeln meist „automatisch“. Typischerweise stehen ihnen nämlich mehr Informationen zur Verfügung, als sie momentan verarbeiten können.
  • Menschen sind soziale Wesen, die auf Zusammenarbeit Wert legen. Sie sind bereit, das Gemeinwohl zu berücksichtigen ,und mehren nicht nur ihren persönlichen Vorteil.
  • Menschen verlassen sich auf Gewohnheiten, soziale Normen und weitverbrei­tete Überzeugungen.  Kollektive Vorstellungen prägen individuelle Entscheidungen.

Die Weltbank-Autoren führen aus, dass all dies beachtet werden muss, damit Entwicklungspolitik Erfolg hat. Es reiche nicht, Menschen über die Vorteile von Sparen zu informieren – Mikrofinanzinstitu­tionen müssten ihre Angebote auch so konzipieren, dass sie den Wertvorstellungen und Alltagsgewohnheiten ihrer Kunden entsprächen. Es sei auch mehr nötig, als Kleinbauern über den Nutzen von Dünger aufzuklären. Es müsse auch sichergestellt werden, dass Dünger gleich nach der Ernte, wenn die Landwirte Geld hätten, zum Verkauf angeboten werden und nicht erst vor der Saat, wenn die Zielgruppe ty­pischerweise knapp bei Kasse sei.

Der Weltbank-Bericht betont, dass kollektive Erwartungen Gesellschaften prägen. Es sei beispielsweise sehr schwer, Korruption dort zu bekämpfen, wo es als selbstverständlich gelte, Schmiergelder zu zahlen und anzunehmen. Denn von solchen Konventionen abzuweichen sei für alle Beteiligten mit Nachteilen verbunden. Destruktive soziale Verhaltensmuster zu ändern sei eine so große Herausforderung, dass rationale Argumente und einfache Anreize nicht ausreichten.   

Der Report widmet Themen wie Armutsbekämpfung, kindlicher Entwicklung, Gesundheit und Klimawandel ganze Kapitel. Ein Kapitel untersucht, wie Gruppendenken und fehlerhafte Theorien die Arbeit entwicklungspolitischer Durchführungsinstitutionen beeinträchtigen. Die Weltbank fordert, solchen Problemen mit Verfahren entgegenzuwirken. Interventio­nen sollten beispielsweise in iterativen Prozessen geprüft und verfeinert werden, um sicherzustellen, dass sie die größtmögliche Wirkung entfalten. In dieser Hinsicht entspricht der Bericht Argumenten von Autoren wie Abhijit Banerjee und Esther Duflo (2011), Ben Ramalingam (2013) oder David Booth (2014).

Es ist allerdings ein wenig bizarr, dass die Weltbank, nachdem sie lange soziologisches und psychologisches Denken vernachlässigt hat, nun so tut, als reagiere sie lediglich auf aktuelle Forschung. Es ist sozialwissenschaftlich seit Jahrzehnten klar, dass arme Menschen in besonderem Maße von ihren Gemeinschaften abhängen und deshalb dem Modell des Homo oeconomicus noch weniger entsprechen als reiche Menschen. Die belehrende Haltung der Weltbankautoren entspricht Technokraten, die ihre Machtposition verteidigen müssen. Ihr Paradigmenwechsel ist aber dennoch zu begrüßen: besser spät als nie.

Hans Dembowski

Link:
World Development Report 2015:
Mind, society and behaviour.
http://www.worldbank.org/en/publication/wdr2015

Literatur:
Banerjee, A., und Duflo, E., 2011:
Poor economics
(siehe auch E+Z/D+C 2013/07– 08, S. 298 ff.).
Booth, D., und Unsworth, S., 2014: Politically smart, locally led development (siehe auch E+Z/D+C 2014/11, S. 406).
Ramalingam, B., 2013: Aid on the edge of chaos
(siehe auch E+Z/D+C 2014/02, S. 48 f.).

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