Kulturspezifik

Sprache als Grenze der Wirklichkeit

Weltweit gibt es nicht nur gender- und religionsspezifische Sicht- und Umgangsweisen mit Krankheit und Gesundheit, sondern auch kulturspezifische. Die Muttersprache spielt dabei eine besonders bestimmende Rolle. In der Diagnostik psychischer Zustände muss der kulturelle Bezugsrahmen berücksichtigt werden, um Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Der Umgang mit psychischen Problemen ist stark kulturabhängig. Short/picture-alliance Der Umgang mit psychischen Problemen ist stark kulturabhängig.

Unsere Muttersprache gibt uns richtungsweisend an, wie wir handeln und denken beziehungsweise das Gedachte in Worte fassen. Die Spielregeln der Kommunikation sind damit vorab festgelegt: Ein deutsches Kind mit deutscher Muttersprache lernt beispielsweise, sein „Ich“ zu betonen und in den Mittelpunkt zu stellen, ein persisches Kind hingegen spricht von „wir“, wenn es um das Ich geht. In vielen Sprachen werden „ja“ und „nein“ nicht mit der Deutlichkeit und Schärfe wie im Deutschen verwendet. So gibt es in zahlreichen asiatischen Sprachen ein abgeschwächtes Ja, aber kein klares Nein, denn man will sein Gegenüber nicht brüskieren.

Zwischen Menschen verschiedener Kulturen sind Missverständnisse aufgrund dieser Unterschiede allgegenwärtig. Die Gesprächspartner sind überzeugt, dass sie sich klar und unmissverständlich ausgedrückt haben – und reden doch aneinander vorbei.

Die psychische Stabilität eines Menschen ist stets abhängig von seinem Dialog mit der Außenwelt. Wo es zum Beispiel oberste Priorität hat, das Gesicht zu bewahren, Schande abzuwehren und das Kollektive zu schützen, ist häufig kein Raum für eine psychische Destabilisierung. Dies spiegelt sich in der Sprache wider: In Kulturen, in denen das Kollektive großgeschrieben wird und alle Angehörigen an Gesundheit und Krankheit beteiligt sind, ist es eine Schande und ein Versagen, seine psychische Destabilisierung zu realisieren und zu verbalisieren. Es bleibt dem Kranken, Hilfebedürftigen nur die körperliche Sprache: Formulierungen wie „mein Herz ist verflüssigt“, „meine Leber brennt“, „meine Haut brennt“ werden benutzt, um den depressiven Seelenzustand zu beschreiben.

Daran wird deutlich, warum in manchen Ländern bestimmte somatoforme Erkrankungen, die sich also nicht auf organische Ursachen zurückführen lassen, häufiger auftreten als in anderen. Die körperliche Ausdrucksweise für das psychische Unwohlsein ist die einzige gesellschaftlich akzeptierte und tolerierte Form. Alle anderen Arten der Destabilisierung werden als „verrückt“ angesehen: von einem Geist, einem Dschinn, einem Teufel oder sonstigen externen Bösewicht besetzt. Diese Art der Externalisierung hilft der Gemeinde, die Ursache außerhalb der Familie zu suchen und damit die Schande fernzuhalten.

Die Persönlichkeitsentwicklung ist per se durch biologische Dispositionen, genetische Determinierungen, lern- und psychodynamische Vorgänge sowie biografisch gewachsene Haltungen bedingt und wird durch den Einfluss sozialer und kultureller Faktoren geformt. Die Begrifflichkeiten zur Persönlichkeit, wie sie in der Psychiatrie und Psychologie genutzt werden, sind geprägt durch die mitteleuropäische Kultur der jeweiligen Forscher. Es führt oft zu Missverständnissen, wenn die feinen kulturellen Unterschiede nicht berücksichtigt werden.


Kulturstandards

In der Diagnostik und Beurteilung eines psychischen Zustands ist besonders der soziokulturelle Bezugsrahmen einschließlich der kulturell geprägten Grundwerte der jeweiligen Herkunftsgesellschaften zu berücksichtigen, um ethnozentrische Fehleinschätzungen zu vermeiden (siehe Kasten).

In der Vermittlung von Kulturstandards wird oft versucht, alle Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns, die für die Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normdefiniert gelten, als typisch und verbindlich zu vermitteln. Dabei werden oft Empfehlungen ausgesprochen: Pünktlichkeit macht im Land X einen Eindruck von Zwanghaftigkeit, während Verspätung als Souveränität verstanden wird. Dabei werden Ausnahmen und die globale Vermengung der Kulturen völlig außer Acht gelassen.

Bereits in den 1970er Jahren, als die Menschen weltweit voneinander getrennter waren als heute und nicht in Echtzeit übers Internet kommunizieren konnten, haben sich sogenannte kulturelle Standards durchaus vermengt. Das Land X mit dem Charakter und Habitus X ist längst nicht mehr starr, und selbst Einheimische kennen sich in vielen Ländern weniger aus als früher üblich. Die interpersonellen Interaktionen innerhalb der Kulturen sind komplexer und vielschichtiger geworden. Dies führt weltweit zu Stress, psychischer Destabilisierung und Überforderung.

Heute ist es nicht unüblich für eine junge Frau, emanzipiert, strenggläubig und vegan zu sein, liberal zu wählen und doch eine traditionelle Meinung zur Sexualität zu vertreten. Die Welt, in der wir leben, ist bereits eine interkulturelle Gesellschaft – was vielen gar nicht bewusst ist. Eine differenzierte Haltung zu sich selbst und eine Reflexion der eigenen Wirklichkeitskonstrukte helfen dabei, die Brücke der Kommunikation weltweit zu betreten und auch zu überqueren.


Solmaz Golsabahi-Broclawski ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztliche Leiterin des medizinischen Instituts für transkulturelle Kompetenz in Bielefeld.
tagung@mitk.eu

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