Behinderung

Gute Absichten reichen nicht

Äthiopien hat der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zugestimmt. Trotzdem gehören Menschen mit Behinderungen immer noch zu den Ärmsten der Gesellschaft. Die meisten von ihnen haben kaum Chancen auf ein eigenständiges Leben.
Weltrekord: Tameru Zegeye schaffte es, auf Armen und Krücken 100 Meter in 56 Sekunden zu rennen. Matt Roberts/picture-alliance/dpa Weltrekord: Tameru Zegeye schaffte es, auf Armen und Krücken 100 Meter in 56 Sekunden zu rennen.

Auf dem Papier sieht das äthiopische Entwicklungsprogramm für den Bildungssektor IV gut aus. Durch Berufsausbildung und Trainingsprogramme beabsichtigt der Staat, „kompetente und selbstständige Bürger hervorzubringen" und „Fertigkeiten zu vermitteln, die zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes beitragen". Oberstes Ziel ist „Armutsminderung und nachhaltige Entwicklung".

Theoretisch sollten Menschen mit Behinderungen in die Bildungsprogramme einbezogen werden; praktisch geschieht dies aber nicht. Die Regierung bestätigte 2012 in ihrer überarbeiteten Strategie für Förderpädagogik (Revised Special Needs Education Programme Strategy), dass kaum behinderte Schüler eine Berufsausbildung erhalten. Folglich gehören Menschen mit Behinderungen in Äthiopien zu den Ärmsten der Armen.

Ähnlich sieht es auch in anderen Ländern aus. Im Jahr 2011 veröffentlichten Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Weltbank einen Joint Global Report. Dieser zeigte, dass mehr als eine Milliarde Menschen weltweit mit irgendeiner Form von Behinderung leben – 80 Prozent davon in Ländern mit niedrigem Einkommen. Die meisten sind arm und von den einfachsten Dienstleistungen ausgeschlossen, einschließlich „des Zugangs zu Bildung sowie technischer und beruflicher Ausbildung", so der Report.

Äthiopien hat große Probleme mit der Berufsausbildung. Doch es gibt rechtliche Vorschriften und Strategiepapiere, die vorsehen, dass Studenten mit Behinderungen an allgemeinen Bildungsangeboten und Berufsausbildungen teilnehmen dürfen. So gibt es eine „Berufs­bildungs-Strategie" und eine „Förder­pädagogik-Strategie" – und eigentlich sollte es auch Förderschullehrer geben. In manchen Regionen wie Tigray und Amhara bemüht man sich sogar aktiv darum, mehr Studenten mit Behinderungen auszubilden.

 

Herausforderungen bleiben

All diese Programme und Gesetze ändern aber nichts daran, dass die Bedingungen für behinderte Schüler in Äthiopien schlecht sind. Es wird ihnen weit mehr versprochen als tatsächlich geboten. Schüler mit Behinderungen sind meist vollständig von Bildungsangeboten ausgeschlossen. Institutionelle Hindernisse und Vorurteile ihnen gegenüber verhindern ihre Inklusion.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit führte ich eine qualitative Studie durch. Ich wollte herausfinden, wie es um die Inklusion Behinderter in Äthiopien hinsichtlich relevanter internationaler Menschenrechtsabkommen steht. Es zeigte sich, dass auf die Bedürfnisse behinderter Schüler nicht angemessen eingegangen wird. Vielmehr gibt es etliche Faktoren, die verhindern, dass diese Schüler in den Genuss einer regulären Schul- und Berufsausbildung kommen.

Haupthindernisse sind:

  • Mangelndes Bewusstsein von Lehrern über die Existenz von Förderpädagogik.
  • Ineffektive und erfolglose Zusammenarbeit von Regierungsbehörden – wie etwa dem Special Support and Inclusive Education Directorate sowie der Technical and Vocational Education and Training Agency (TVET), die beide zum Bundeserziehungsministerium gehören.
  • Den TVET-Schulen fehlt es an geeigneten Lehrmaterialien.
  • Lehrer von TVET-Schulen haben keine Möglichkeiten, eine spezielle pädagogische Ausbildung zu absolvieren.
  • An TVET-Schulen gibt es keine gezielten Hilfsangebote für Studenten mit Behinderungen.
  • Das räumliche und soziale Umfeld an den TVET-Schulen ist nicht behindertenfreundlich – das beginnt bei einer ablehnenden Einstellung und reicht über schlechte Kommunikation hin zu institutionellen Barrieren.
  • Das Thema Förderpädagogik wird in den jährlichen Aktionsplänen und Berichten der diversen TVET-Institutionen (Schulen, Regionalbüros und Behörden) nicht selbstverständlich berücksichtigt.
  • Es sind keine Gelder für die Implementierung von Sonderförderung in allen Schulformen vorgesehen.
  • Körperliche und geistige Fitness gelten für Schüler als Aufnahmekriterien in formale Berufsbildungsprogramme. So steht es – basierend auf den Berufsstandards von 2007 – im Modell-Lehrplan des Ministeriums.

Behinderte Schüler erhalten somit selten eine formale Berufsbildung. Diese lange Liste an Hindernissen zeigt, dass der Anspruch des Staates weit von der Wirklichkeit entfernt ist.

Und es gibt eine weitere Hürde: Schüler, die eine Berufsausbildung absolvieren wollen, müssen die mittlere Reife nach der 10. Klasse bestehen. Da die wenigsten behinderten Kinder regulär zur Schule gehen, können sie diese Bedingung nicht erfüllen. Das ist strukturelle Diskriminierung.

Im Schuljahr 2011/2012 hatten laut Bundesbildungsministerium nur 3,2 Prozent aller schulpflichtigen Kinder mit Behinderungen Zugang zu Bildung. Letztlich müssen sie einfach das große Glück haben, von Nichtregierungsorganisationen gefördert zu werden (siehe Kasten, S. 385).

Viel zu wenige Äthiopier mit Behinderungen bekommen überhaupt die Chance, eine schulische Bildung zu bekommen oder einen Beruf zu erlernen. Tameru Zegeye ist eine seltene Ausnahme. Er kam mit zwei deformierten Füßen zur Welt und wurde Sportler – zum Rennen nutzt er Arme und Krücken. Er ist ein inspirierendes Vorbild und Beispiel dafür, dass jeder eine Chance verdient. Aber es bleibt noch viel zu tun, bis die guten Absichten der Regierung umgesetzt werden und soziale Inklusion von Menschen mit Behinderungen Alltag wird.

 

Abebe Yehualawork ist ein sehbehinderter Äthiopier, der derzeit seine Doktorarbeit an der Jyvaskyla-Universität in Finnland schreibt.
abework2011@yahoo.com

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