Kultur & Gesellschaft

Musik der Unabhängigkeit

2010 gilt als afrikanisches Jubeljahr. 50 Jahre zuvor, im Jahr 1960, erreichten 17 Staaten ihre Unabhängigkeit, darunter die Demokratische Republik Kongo, Guinea, Burkina Faso und die Elfenbeinküste. Damals wie heute ist die Musik Ausdruck der afrikanischen Gesellschaft.


[ Von Marianne Lange ]

1957 hatte Ghana als erstes Land südlich der Sahara die Unabhängigkeit – und zwar von Britannien – erkämpft. Am 2. Oktober 1958 erklärte sich als nächstes Guinea unabhängig. Im „Afrikanischen Jahr“ 1960 erlangten 17 ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit von den Kolonialstaaten, davon 14 allein von Frankreich: Kamerun, Togo, Madagaskar, Benin, Niger, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Tschad, die Zentralafrikanische Republik, die Republik Kongo, Gabun, Senegal, Mali und Mauretanien. Im selben Jahr zog sich Belgien aus der Demokratischen Republik Kongo und Großbritannien aus Somalia und Nigeria zurück. Im Laufe der 60er Jahre folgten weitere Staaten.

Je mehr Länder unabhängig wurden, um so mehr feierte Afrika. Musik und Tanz sind in Afrika eng mit dem Geschichten erzählen verbunden. Und die Musik der 1960er Jahre – der High Life oder der Cha Cha zum Beispiel – erzählt euphorisch die Geschichte der Unabhängigkeit. 50 Jahre später drücken afrikanische Musiker in Form von Rap und Reggae ihr Empfinden über „50 Jahre Abhängigkeit“ seit der Unabhängigkeit aus.

Aufbruchsmusik der 1960er

Emmanuel Tettey Mensah (1919 – 1996) wurde Ghanas König des High Life, einer Musikrichtung mit charakteristischen Jazz- und Gitarrenanteilen. 1948 gründete Mensah die „Tempos“ und machte den High Life auch in Nigeria, dem Kongo und Kenia populär. Seine Musiker setzten die Aufbruchsstimmung jeden Tag in Rhythmen um. Zu ihren Hits „Day by Day“ oder „Ghana, Guinea, Mali Union“ tanzten Männer und Frauen auf dem Parkett glänzender Ballsäle und den Böden staubiger Kneipen. E.T. Mensah war der Held der frühen panafrikanischen Popmusik, spielte Piccoloflöte, Saxophon, Orgel, Trompete. Er war einer der ganz großen Musiker der Unabhängigkeit.

Im Kongo erklangen stolze Verse zum „Indépendance Cha Cha“ von Joseph Kabasele (1930 – 1983), auch „Le Grand Kalle“ genannt. „Wir haben unsere Unabhängigkeit am Runden Tisch verhandelt“, sang man und wiegte sich zu den Klängen eines neuen Zeitalters mit den Schritten der kongolesischen Rumba. In vielen der neuen unabhängigen Staaten stellten Jugendclubs und Kulturzentren Auftrittsorte und Instrumente zur Verfügung. Tradition und Moderne befruchteten sich. Einflüsse aus der Karibik (etwa der Calypso) oder Europa trafen auf westafrikanische Klangfarben. Elektrische Gitarren, Verstärker, Trommeln, Blasinstrumente und Stimmen aller Art mischten sich. Texte drückten Selbstbewusstsein aus. Musiker und Klubbesitzer konnten mit ihrem Beruf Geld verdienen. Die neuen Staaten boten ein künstlerisch anregendes Reiseziel und Musiker kamen aus dem Exil zurück.

Neugebildete afrikanische Regierungen ließen Betriebsorchester wie die Eisenbahner „Rail Band de Bamako“ aus Mali zum Tanz aufspielen, um Nation Building zu betreiben. „Les Amazones de Guinée“ aus Guinea waren eine Samba-Gruppe bestehend aus Polizistinnen. Sie wurden Botschafterinnen ihres Landes und gingen 1983 auf Tour durch Europa. Eine der Sängerinnen, Sona Diabaté, hatte Unterricht bei Miriam Makeba, der „Mama Afrikas“. Geboren 1932 in Johannisburg ging Makeba 1960 wegen ihres Kampfes gegen die Apartheid ins Exil. Guinea schenkte ihr sogar einen Diplomatenpass.

„50 ans 2 dépendance“

Doch wie setzen Musiker heute das 50. Jahr der Unabhängigkeit um? Der 1968 in der Elfenbeinküste geborene Reggaestar Tiken Jah Fakoly stellt im November 2010 sein neues Album „African Revolution“ vor – mit einer Tournee in Frankreich. Am Jahrestag gebe es nichts zu feiern, wendet er ein: „Ich habe keine Lust zu tanzen. Wir besitzen nur eine Fotokopie der Unabhängigkeit, nicht aber das Original.“

Afrika sei keineswegs unabhängig, sagt auch der Rapper Serge Bambara alias Smockey aus Burkina Faso. Er wurde im April 2010 mit dem Kora-Preis als bester Hip-Hop-Künstler Afrikas ausgezeichnet. Smockey hat er sich genannt vom Französischen „se moquer“ – sich mokieren, sich lustig machen. Er singt von der intellektuellen Dependenz, der doppelten Abhängigkeit. Der Musiker erscheint in Jeans und T-Shirt, trägt ein kleines Bärtchen, kann harmlos wirken mit seiner Gitarre, trifft verbal umso deutlicher. Er ist bekannt, wird bei Konzerten und Podiumsdiskussionen bejubelt, setzt sich immer wieder politisch ein. Seine neue CD „Cravate, Costard et Pourriture – Schlips, Anzug und Moder“ wird in dem kleinen Supermarkt am Boulevard Circulaire in Ouagadougous Stadtteil Patte d’Oie für 2000 Franc CFA (circa 3,30 Euro) feilgeboten.

Smockeys Kassetten und CDs wurden nicht weit von hier im Studio „Abazon“ produziert, sind sozusagen Kiezprodukte. Gute Arbeitsbedingungen hat der Musiker dort nicht. Er kämpft mit Stromausfall, Hitze, Mücken und lauten Nebengeräuschen, die jede Aufnahme zunichte machen. Normale, aber trotzdem ärgerliche Arbeitsbedingungen für einen Musikproduzenten in Westafrika. Schon gar, wenn man ihm vorschlägt, 50 Jahre Unabhängigkeit zu bejubeln.

Auch Burkina Faso gehört zu den 14 Staaten, die 1960 durch Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen wurden: „Was haben wir erreicht? Wir lassen uns auf absurde Zählmuster ein, nach denen wir immer noch in die untersten Kategorien der Statistiken eingeordnet werden“, kritisiert der Rapper. Die wahre Unabhängigkeit sieht er im Wirken von Gestalten wie Kwame Nkrumah, Patrice Lumumba und Thomas Sankara. Lang ist’s her.

Und heute, 2010 in Ouagadougou? „Man gibt uns Milliarden CFA Franc ausländische Hilfen, dabei haben wir Schätze unter der Erde, auf dem Boden, in der Luft: Öl, Gold, Baumwolle, Sonnenenergie. Doch immer wieder fällt der Strom aus. Dann können wir hier im Studio nichts produzieren. Aber nur ein paar hundert Kilometer östlich von hier, im Niger, wird Uran gefördert. Das wird allerdings sofort aus Afrika heraustransportiert. Warum nutzen wir es nicht in der Region?“

Smockeys neues Stück „50 ans 2 dépendance“ widmet sich der kolonialen Abhängigkeit, die trotz 50 Jahren Unabhängigkeit weiterbesteht. Er beschreibt seinen Videoclip: „Wir tanzen und musizieren. Der Europäer schenkt uns einen Geburtstagskuchen, lässt sich von uns den Nacken kraulen und liefert unseren Generälen Waffen. Was sollen wir feiern? 50 Brücken? 50 Straßen? 50 Häfen?“ Er kritisiert die Ungleichheit, auch 50 Jahre nachdem Frankreich losgelassen hat: „Warum müssen wir einen Psychotest aushalten und alle möglichen Bescheinigungen einreichen, wenn wir Europa auch nur besuchen wollen, aber jeder Franzose kann sich hier ohne Umstände niederlassen?“

Der Studioname Abazon bedeutet in der Sprache der Bissa „Il faut faire vite – Wir müssen uns beeilen“. Dem Musiker Smockey ist 50 Jahre nach der Unabhängigkeit die Geduld ausgegangen. Er sieht sich nicht als Griot, ein traditioneller Sänger und Geschichtenerzähler, der die Heldentaten seiner Herrscher gegen Geld besingt. Er versteht sich vielmehr als einen, der Zorn und Ärger direkt und schmutzig aufs Korn nimmt: „Ich bin höchstens die Sorte Griot, die es früher auch gab: die Leute, die Geschichten erzählt haben, um aufzuklären!“

Mit welcher Aufklärung will er sich, soll sich Afrika, nun beeilen? „Natürlich gilt meine Kritik an 50 Jahren Abhängigkeit auch uns selbst“, sagt Smockey. „Wir sind nicht weitergekommen. Alles wird verzögert. Wer reich werden will, muss sich als Politiker wählen lassen, um sich dann die staatlichen Institutionen zunutze machen zu können.“

In seinem Song „Votez pour moi – Wählen Sie mich“ kritisiert er, dass die Wahlkandidaten keinerlei Ideen haben und das Volk für blöd verkaufen. Im Videoclip spielt er einen Präsidentschaftskandidaten, „der allen Wählern klar sagt, dass er sie verarschen wird. Weil er sonst keine Angebote hat“. Der Kandidat wirbt für sich, indem er Geschenke verteilt. Wenn das Wahlvolk aufmuckt, lässt er seinen Sicherheitsdienst zuschlagen. Aber das Volk gibt ihm trotzdem die Stimme. Smockey: „Lustigerweise ist dieser Clip eine ganze Weile im staatlichen Fernsehen gelaufen, weil man dachte, ich werbe für Wahlen. Aber dann hat man gemerkt, dass es doch keine Hymne auf die bürgerlichen Pflichten war, und hat das gestoppt. Aber den Preis für den besten Song erhielt ich trotzdem!“

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