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Sexualisierte Gewalt gegen Männer: der Rentierbaby-Effekt

Auch Männer erleben Stalking, Übergriffe oder Beziehungsgewalt – doch Hilfe suchen und finden sie nur selten. Serien wie „Rentierbaby“ räumen mit Klischees auf, und neue Initiativen versuchen, Jugendliche online zu erreichen, etwa auf der Gaming-Plattform Twitch.
Der schottische Comedian Richard Gadd (Mitte) thematisiert in seiner Miniserie „Rentierbaby“ seine eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. picture alliance/Chris Pizzello/Invision/AP/Chris Pizzello
Der schottische Comedian Richard Gadd (Mitte) thematisiert in seiner Miniserie „Rentierbaby“ seine eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt.

Wenn er keinen Sex mit ihr wollte, verhöhnte sie ihn und sprach ihm seine Männlichkeit ab. „Sie dachte: Ein Mann muss doch Sex haben wollen, immer verfügbar sein“, sagt Max, der eigentlich anders heißt. Wenn er sich entziehen wollte, habe seine Ex-Freundin ihn als „Weichei“ verhöhnt. Sie habe die Passwörter seiner Social-Media-Profile gekannt, bei jedem Treffen sein Smartphone kontrolliert sowie Nachrichten und Fotos durchgesehen. Einmal habe sie ihn sogar vor ihren Eltern geohrfeigt. „Ich habe mich machtlos gefühlt, benutzt und auch ausgelaugt“, erzählt der Student, der in Deutschland lebt. Auf die Idee, sich Hilfe zu suchen, sei er nicht gekommen. Selbst Freunden habe er kaum von seiner Beziehung erzählt.

Max sagt, er habe sich dafür geschämt, Beleidigungen und Übergriffe zuzulassen. Lange habe er auch nicht richtig realisiert, dass er Beziehungsgewalt erlebt habe. Er sei „emotional abhängig“ gewesen, glaubt er. Dem auf Männerberatung spezialisierten Psychologen Björn Süfke zufolge geht es vielen Betroffenen so. Klischees verzerren oft den Blick auf eigene Gewalterfahrungen; auch mediale Darstellungen und Popkultur prägen die gesellschaftlichen Vorstellungen von sexualisierter Gewalt – etwa, wie ein typisches „Opfer“ aussieht. „Männer sind Täter, Frauen sind Opfer“, fasst Süfke die gängige Vorstellung zusammen. 

Tatsächlich sind es vor allem Frauen, die Stalking und Beziehungsgewalt erleben – und allzu oft endet das tödlich. Den Vereinten Nationen zufolge wurde 2023 weltweit etwa alle zehn Minuten eine Frau ermordet, oft von Partnern, Ex-Partnern oder Angehörigen. 

Doch auch Jungen und Männer erleben sexualisierte Gewalt, Stalking oder Beziehungsgewalt durch Männer oder Frauen. Erzählungen, die diese Realität widerspiegeln und in denen Betroffene sich wiedererkennen, gibt es noch zu selten. Eine davon ist die 2024 veröffentlichte britische Netflix-Serie „Rentierbaby“ (im Original „Baby Reindeer“), mit der der schottische Comedian, Schauspieler und Drehbuchautor Richard Gadd verarbeitet, wie er von einer Frau gestalkt und von einem Mann sexuell missbraucht wurde.

Mehr Männer nutzen Hilfsangebote

In Großbritannien löste die Serie im vergangenen Jahr einen „Rentierbaby“-Effekt aus: Deutlich mehr junge Männer wandten sich nach dem Serienstart an Beratungsstellen für gewaltbetroffene Männer. „Rentierbaby“ zeigt auch, wie schwer es ist, bei übergriffigem Verhalten Grenzen zu setzen – weil Betroffene vielleicht erst ein gutes Verhältnis zu der Person haben, sie die Risiken falsch einschätzen, sich gute und schlechte Erlebnisse abwechseln, sie Angst vor den Folgen haben oder die andere Person nicht verletzen wollen.

„Die Serie ist kreativ gemacht, und ich finde es gut, dass das Thema durch Medien und Popkultur mehr Gewicht bekommt“, meint Max, der drei Jahre brauchte, um sich von seiner Ex-Freundin zu lösen. „Es sollte noch mehr davon geben.“ Gewalterfahrungen müssten dabei nicht immer zwingend die Hauptrolle spielen, wie bei „Rentierbaby“, glaubt er – es wäre auch hilfreich, wenn Übergriffe gegen Männer etwa in Nebensträngen oder einzelnen Szenen von Filmen thematisiert würden.

Die Netflix-Serie hat viele Diskussionen ausgelöst und Menschen berührt. „Ich fühlte mich völlig bloßgestellt, als hätte jemand alle meine Geheimnisse ausgegraben, mich nackt ausgezogen (…) und mitten in ein volles Stadion gestellt“, beschreibt ein Nutzer auf der Onlineplattform Reddit sein Erlebnis, „Rentierbaby“ mit Freunden anzusehen. „Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich in Tränen aufgelöst und zusammengerollt, aber ich saß einfach da und tat so, als würde es mich nur ein bisschen anfassen.“ Es falle ihm sehr schwer, über seine Probleme zu reden, Dinge zuzugeben, sich wirklich zu öffnen. „Rentierbaby“, glaubt er, habe viele Männer mit ähnlichen Erfahrungen beeinflusst, auch weil der von Richard Gadd gespielte Hauptcharakter Donny kein „perfektes Opfer“ sei, sondern „ein echter, unvollkommener Mensch“.

Über Gewalterfahrungen reden

Spezielle Beratungsangebote oder Schutzhäuser eigens für Männer sind weltweit rar, und viele Männer scheuen sich, Hilfe zu suchen. Psychologe Süfke, der in Deutschland das Hilfetelefon Gewalt an Männern mit aufgebaut hat, beobachtet, dass Männer sich aufgrund traditioneller Rollenbilder meist noch schwerer als Frauen damit tun, über ihre Gewalterfahrungen zu reden. Sie entscheiden sich auch deutlich seltener für Therapien. 

„Sich als Opfer zu definieren und Hilfe zu suchen, ist wie ein Einschnitt in die eigene Männlichkeit“, sagt Süfke. „Die größte Hürde ist es, sich das vor sich selbst einzugestehen.“ Doch Sprachlosigkeit und Einsamkeit können lebensgefährlich sein: Die globale Suizidrate von Männern ist deutlich höher als bei Frauen. Niedrigschwellige Ansätze wie „Walk and Talk“, die traditionelle Therapien durch Aktivitäten wie Spaziergänge ersetzen und bei denen nicht die ganze Zeit direkter Augenkontakt notwendig ist, sollen Männern Ängste nehmen. 

Das Schweigen brechen

Einige Initiativen versuchen auch, Jungen und Männer über Social Media oder Gaming-Plattformen zu erreichen. Der Brite Jeremy Indika klärt beispielsweise auf verschiedenen Social-Media-Plattformen, aber auch in Podcasts, über Kindesmissbrauch auf. Er will sichtbar machen, dass viele Jungen wie Mädchen sexualisierte Gewalt erleben – ohne dass man es ihnen zwingend anmerken kann. Auch bei ihm fiel lange niemandem auf, dass er als Achtjähriger von einem älteren Mann missbraucht wurde. „Ich war gut in der Schule, hatte einen großen Freundeskreis, war in der Klasse sehr offen und galt als mutig und kontaktfreudig“, schreibt Indika auf seiner Website. „Niemand hätte ahnen können, was ich durchgemacht hatte. Es war, als hätte ich es tief in mir vergraben.“ 

Mit 25 Jahren begannen bei Indika die Flashbacks, Erinnerungen an die Übergriffe kamen zurück. Als er sich online auf die Suche nach anderen Betroffenen machte, spürte er: Das Problem ist riesig, weltweit. Indikas digitale Initiative „Something to say“ bietet Menschen, die als Kinder oder Jugendliche missbraucht wurden, eine Plattform. Sie zeigen Gesicht – und wollen so das Schweigen rund um Kindesmissbrauch brechen.

Der Psychologe Elias Jessen forscht an der Berliner Charité als Doktorand zu Kommunikationsangeboten für junge Männer. Er fordert, den Fokus noch viel stärker auf digitale Aufklärung zu verlagern – dorthin, wo junge Männer im Internet unterwegs sind. Auf einer Gaming-Plattform wie Twitch könnten in lockerer Atmosphäre auch ernste Themen gut verpackt werden, meint Jessen. Dort, auf Kanälen wie TikTok und YouTube sowie in einem Podcast, diskutiert er über Gaming und Popkultur, aber eben auch über mentale Gesundheit, Beziehungen und Gewalt. Sein Ziel: junge Männer durch eine nahbare, authentische Ansprache zu erreichen, ohne zu intellektuell oder ernsthaft zu sein. 

Wie Jessen berichtet, ist das Feedback positiv. Einige Männer hätten ihm zurückgemeldet, sie würden jetzt anders über mentale Gesundheit nachdenken. Manche überlegten sogar, eine Therapie zu beginnen. 

Links

Betroffene von Gewalt und sexuellem Missbrauch finden Hilfsangebote im bundesweiten Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch, ein Angebot der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen: 
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

Hilfsangebote für Männer, die Gewalt erfahren haben:
Hilfetelefon Gewalt an Männern
Männergewaltschutz

Jeremy Indikas Initiative „Something to say“
Elias Jessen auf Twitch

Sonja Peteranderl ist Journalistin und Gründerin von BuzzingCities Lab, einem Thinktank, der sich mit digitaler Innovation, Sicherheit und organisierter Kriminalität beschäftigt.
euz.editor@dandc.eu 

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