Wirtschaftsgeschichte

Zu Beginn der Industrialisierung

Globalisierungskritiker sehen oft die Handelsliberalisierung als Ursache ungerechter Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern. Das ist weder ganz falsch noch völlig richtig. In der Tat erlauben offene Grenzen Auftraggebern, dorthin zu gehen, wo die Arbeitskosten am niedrigsten sind – und wo sie die Produktion aufnehmen, herrscht oft große Armut, die durch Billigjobs auch noch deutlicher wird. Die Textilwirtschaft ist aber auch die Branche, mit der Industrialisierung normalerweise beginnt.
Wenn sich eine Ökonomie entwickelt und diversifiziert, steigen in der Regel die Löhne und die Qualität der Produkte. Gewerkschaften werden kampffähig und setzen sich für soziale Sicherung ein. Die Verhältnisse bessern sich auch in der Kleidungsherstellung, weshalb die Kosten steigen und erste Investoren beginnen, sich anderswo nach billigeren Produktionsmöglichkeiten umzusehen.

Dass Arbeitgeber am Anfang der Industrialisierung einer Gesellschaft immer wieder besonders wenig für Arbeit ausgeben müssen, liegt nicht nur an ihrer Skrupellosigkeit. Wichtig ist auch, dass in den jeweiligen Ländern typischerweise in den Agrarregionen große Not herrscht – wie in England im späten 18. Jahrhundert. Folglich sind Menschen froh über jede Verdienstmöglichkeit, auch wenn diese nicht reicht, um der Armut zu entkommen, und in weiter entwickelten Regionen als un­akzeptabel gelten würde.

Wie sozialwissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahrzehnten in Bangladesch gezeigt hat, hat sogar auf grausame Weise ausbeuterische Arbeit für jung Frauen auch attraktive Dimensionen. Sie ziehen aus den Dörfern, wo sie der strengen sozialen Kontrolle ihrer Verwandtschaft unterliegen, in städtische Gebiete, wo sie ihren Alltag mit Altersgenossinnen selbst bestimmen. Ihr bescheidener Verdienst stärkt ihr Selbstvertrauen und stärkt ihre Stellung in der Familie. Sie haben auch eine größere Chance, über ihren Ehepartner mit zu entscheiden, wenn sie selbst einen Großteil ihrer Aussteuer verdient haben.

Wer Not lindern will, muss nicht nur auf die Textilindustrie schauen, sondern auch auf ihr Umfeld. Es kommt auch weniger darauf an, die Branche selbst zu bekämpfen, als einen Entwicklungspfad zu finden, der einem Land erlaubt, schnell voranzukommen.

Globalisierungskritiker in reichen Ländern sind sich der Komplexität dieser Fragen zunehmend bewusst. Deshalb fordert zum Beispiel die internationale Clean Clothes Campaign auch nicht den Boykott von Waren aus Bangladesch. Solche eine Kaufverweigerung würde auch den Arbeiterinnen schaden. Die Campaign zielt ganz darauf ab, dass die Arbeitsbedingungen besser werden.

 

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