Ernährungssicherung

Wege aus dem stillen Tsunami

Vor drei Jahren ist die Zahl der extrem Armen erstmals unter eine Milliarde gesunken. Wir waren auf dem Weg, Hunger und Armut zu halbieren, ein beträchtliches Stück vorangekommen. Zugrundeliegende Parameter wie Wachstum in den meisten Entwicklungsländern oder Investitionen in Afrika haben sich positiv entwickelt. Frieden und Demokratie stabilisierten sich in vielen Teilen der Welt. Dem steht nun eine beängstigende negative Dynamik gegenüber. Die Nahrungsmittelpreise sind so dramatisch angestiegen, dass das Welternährungsprogramm Alarm schlägt: Millionen Menschen, die vor sechs Monaten noch nicht unter akutem Hunger leiden mussten, tun es nun.


[ Von Heidemarie Wieczorek-Zeul ]

Ein stiller Tsunami breitet sich aus; nach Erhebungen der Weltbank sind 33 Länder besonders betroffen. Die Weltgemeinschaft reagiert. UN Generalsekretär Ban Ki-moon hat eine eine Task Force eingerichtet, deren erste und dringlichste Aufgabe es ist, wirksame Hilfe für Menschen in akuter Not zu organisieren. Der zusätzliche Bedarf summiert sich nach den Schätzungen des Welternährungsprogramms auf mindestens 750 Millionen Dollar allein für das Jahr 2008. Hier ist sofortige internationale Solidarität unverzichtbar.

Das Welternährungsprogramm ist die größte Hilfsorganisation der Welt und verfügt über ein hoch effizientes, logistisches Netzwerk, das in der Lage ist, fast alle Orte der Erde kurzfristig mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Wir haben dem Welternährungsprogramm zusätzlich zu unseren jährlichen Beiträgen und Projektförderungen 20 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt und werden diese Hilfe weiter aufstocken. Außerdem arbeiten wir eng mit deutschen Nichtregierungsorganisationen zusammen, die auf Hilfe in Notlagen spezialisiert sind, wie etwa Welthungerhilfe, Caritas oder Diakonie Katastrophenhilfe.

Wichtig ist mir dabei, dass die Hilfsleistungen die lokalen Märkte so wenig wie möglich stören und nicht die Nahrungsmittelproduktion in den betroffenen Ländern beieinträchtigen, die heute unverzichtbarer denn je ist. Daher arbeiten wir insbesondere in städtischen Hungergebieten mit Geldleistungen für die betroffenen Haushalte oder mit Nahrungsmittelcoupons. Denn oft sind Nahrungsmittel im Prinzip verfügbar, aber für die arme Bevölkerung nicht bezahlbar. Unser besonderes Augenmerk muss auf Müttern und Kindern liegen. Wenn direkte Transferleistungen nicht möglich sind, kommen Food-for-Work-Programme in Betracht; direkte Nahrungsmittelhilfe kann immer nur die ultima ratio sein.

Die internationale Nothilfe wird von Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds für Länder, die wegen des Preisauftriebs in Zahlungsschwierigkeiten geraten, flankiert. Ich hoffe, dass die finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft ein ausreichender Anreiz ist, Agrarländer von weiteren Exportverboten abzuhalten. Denn derartige Reglementierungen – so verständlich sie sind – führen nach den Gesetzen des Marktes zu zusätzlichen Verknappungen und schaden den Ärmsten der Armen.


Langfristige Perspektive

So notwendig Not- und Soforthilfen sind, so wichtig ist es, eine nachhaltige Antwort auf die zugrundeliegende, vielschichtige Problematik zu geben. Es wäre fatalistisch, verantwortungslos und sachlich falsch, aus der aktuellen Krise zu folgern, die Millennium-Entwicklungsziele seien gescheitert und es könne nur noch um Schadensbegrenzung gehen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass bei einer seit Jahren wachsenden Weltwirtschaft in vielen Ländern dieser Welt Unruhen ausbrechen, weil die Menschen Hunger leiden. Es ist zwingend, die brisante Lage schnell und genau zu analysieren und hieraus entschlossenes Handeln abzuleiten.

Die Gründe der Krise sind komplex und greifen vielfältig ineinander. Die zu begrüßende Steigerung des Wohlstands in einigen Entwicklungsländern hat zu einer erhöhten Nachfrage nach Nahrungsmitteln und zu veränderten Konsumgewohnheiten geführt. Im weltweiten Durchschnitt essen und trinken die Menschen heute mehr und vor allem ausgewogener als vor 20 Jahren. Insbesondere in großen asiatischen Ländern entwickelt sich ein Mittelstand, der sich immer häufiger auch Obst, Gemüse und vor allem Milch- und Fleischprodukte bei den täglichen Mahlzeiten leisten kann. Für die Produktion von Fleisch muss man aber die bis zu zehnfache Getreidemenge an die Tiere verfüttern.

Nahrungsmittel sind zu einem knappen und teuren Gut geworden, und die meisten Prognosen sagen, dass es sich hierbei um einen längerfristigen Trend handeln wird. Der Klimawandel wird dazu beitragen, dass die Niederschlagsmengen sich vor allem in der südlichen Hemisphäre verringern und dadurch Anbauflächen verloren gehen oder deren Produktivität sich verschlechtert. In Küstenregionen werden Überschwemmungen Ackerland zerstören. Hinzu kommen tendenziell weiter steigende Energiepreise, die auf landwirtschaftliche Produkte durchschlagen. Die aktive Förderung vieler Industrieländer im Bereich der Agrartreibstoffe für die Beimischung zu Benzin löst zusätzlichen Druck auf die knappen Land- und Wasserressourcen aus, die für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung stehen. Nach Berechnungen des renommierten International Food Policy Research Institute (IFPRI) trägt die Agrarenergieproduktion je nach Pflanze und Beimischungsquote zwischen 26 und 72 Prozent zu den Preissteigerungen bei Lebensmitteln bei.

Dennoch ist es möglich, durch gute nationale und internationale Landwirtschaftspolitik mittelfristig eine Stabilisierung oder sogar einen Rückgang der Preise zu bewirken. Denn vor allem in Entwicklungsländern können wesentlich mehr Nahrungsmittel hergestellt werden als heute; die landwirtschaftliche Produktivität kann noch erheblich gesteigert werden. Einer der Gründe, warum dies bisher nicht geschehen ist, sind die vergleichsweise geringen Investitionen in die ländliche Entwicklung. Hier liegt eine Aufgabe der Entwicklungsländer, ihre Agrarpolitik zu verbessern und für geeignete Förderstrategien zu sorgen. Die jetzt steigenden Preise sind der ideale Moment für eine derartige Umorientierung.


Die Verantwortung der Industrieländer

Wenn ländliche Räume in der Vergangenheit vernachlässigt wurden, liegen die Ursachen aber auch zu einem beträchtlichen Teil in den Industrieländern. Durch die Agrarexportsubventionen der Industrieländer wurden die Märkte in den Entwicklungsländern mit billigen Produkten überschwemmt. Das durch Subventionen mögliche Exportdumping der Industrieländer hatte fatale Auswirkungen auf Produktion und Marktmechanismen in den Entwicklungsländern. Die einheimische Landwirtschaft konnte nicht mithalten. Unter diesen Bedingungen lohnten sich keine Investitionen, weder für Kleinbauern und Bäuerinnen noch für Handelsunternehmen; und für afrikanische Regierungen, die auch an erschwinglichen Nahrungsmitteln für ihre wachsende Stadtbevölkerung interessiert sind, schon gar nicht.

Wenn europäische Hähnchenteile in Ghana zu einem Preis verkauft werden, der unter den dortigen Produktionskosten liegt, ist dies eine unerträgliche Verzerrung zulasten der Landwirtschaft in Ghana; ein Mechanismus, der zu einer Verringerung der Produktion und damit auf längere Sicht indirekt zu Hunger führt. Mexiko muss heute teure Nahrungsmittel einführen, weil subventionierte Maisexporte aus den USA die früher florierende, einheimische Produktion in den Ruin getrieben hatten.

Diese Zusammenhänge machen überdeutlich, das ein Teil der zerstörerischen Kraft des stillen Tsunamis aus den Industrieländern kommt. Wir sind in der Verantwortung, die globalen Strukturen gerechter zu gestalten und müssen die Welthandelsrunde nun endlich zügig zu einem entwicklungsorientierten Abschluss bringen. Wann wenn nicht heute unter dem besonderen Druck der Ernährungskrise ist die Stunde gekommen, um wettbewerbsverzerrende Exportsubventionen und Zölle, die die Landwirtschaft der Entwicklungsländer behindern aus dem Welthandelssystem zu verbannen! Ich unterstütze ausdrücklich den Aufruf von Weltbankpräsident Zoellick zu einem „New Deal for Global Food Policy“.

Hierzu gehört auch, agrarpolitische Reformen und Investitionsprogramme der Entwicklungsländer, zum Beispiel das landwirtschaftliche Entwicklungsprogramm CAADP (Comprehensive African Agriculture Development Programme) der Afrikanischen Union zu unterstützen. Den afrikanischen Ländern ist klar, dass Investitionen in die ländliche Entwicklung notwendiger sind denn je. Der Weltentwicklungsbericht 2008 stellt mit großer Deutlichkeit heraus, dass im ländlichen Raum ein noch längst nicht ausreichend genutztes Potential zur Bekämpfung von Armut und Hunger liegt. Hohe Agrarpreise können den Bauern und Bäuerinnen dabei einen Anreiz für eine gesteigerte Produktion liefern. Das setzt jedoch voraus, dass der Zugang zu Land, Wasser, Kredit und Märkten verbessert wird. Gerade auch in diesem Bereich entspricht es nicht nur der Gerechtigkeit, sondern auch der wirtschaftlichen Vernunft, eine gezielte Genderpolitik zu fahren und die Rolle der Frauen zu stärken. Denn Frauen produzieren beispielsweise in Afrika etwa 80 Prozent aller Nahrungsmittel.

Um die landwirtschaftliche Produktion nachhaltig zu steigern, muss zudem die internationale Agrarforschung verstärkt werden, um die Erträge zu erhöhen, aber auch um den negativen Effekten des Klimawandels begegnen zu können. Politische Entscheidungen zu Agrartreibstoffen müssen im Lichte der Ernährungskrise überdacht werden. Die Beimischungsziele müssen auf den Prüfstand; ein Moratorium ist notwendig. Es müssen Zertifizierungssysteme entwickelt werden, die ökologische und soziale Standards bei der Produktion garantieren. Das Recht auf Ernährung hat Vorrang vor dem Bedürfnis nach Mobilität.

Es gibt also Wege aus dem stillen Tsunami; es sind neben der Soforthilfe die Entwicklungswege, die auch zur Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele führen. Beides muss wirksam miteinander verknüpft werden. Nahrungsmittelhilfe muss in eine langfristige Ernährungssicherungsstrategie eingebettet sein. Die Menschen in den Entwicklungsländern brauchen zudem soziale Sicherungssysteme, die sie vor den elementaren Lebensrisiken schützen. Es ist eine gute Nachricht, dass Indien und China bereits damit angefangen haben, solche Systeme aufzubauen. Soziale Sicherung wird auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eine zunehmende Rolle spielen.

Im September diesen Jahres tritt eine UN-Konferenz zusammen, um festzustellen, wie weit die Weltgemeinschaft sich den Zielen genähert hat, die wir uns zur Jahrtausendwende selbst gesetzt hatten, und was noch zusätzlich getan werden muss. Ende 2008 findet in Doha („Financing for Development“) eine weitere Weltkonferenz statt, bei der entscheidende Fragen der Finanzierung dieser Entwicklungsprozesse geklärt werden müssen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, auf beiden Konferenzen die Wege aus dem stillen Tsunami zu ebnen. Dies wird nur dann gelingen, wenn die durch den Millenniumprozess ins Leben gerufene neue globale Partnerschaft tatsächlich von allen Seiten ernst genommen und auch finanziert wird. Die Ernährungskrise macht deutlich, dass Landwirtschaftspolitik untrennbar mit Handels- Umwelt- und Klima- und Sozialpolitik zusammenhängt. Wir können sie daher nur mit ganzheitlichen, entwicklungspolitischen Strategien in den Griff kriegen.

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