Deutschland im 20. Jahrhundert

„Kein Vergessen“

Völkermord, Weltkriege, zwei totalitäre Regime: Die deutsche Geschichte ist traumatisch. Dennoch ist die Bundesrepublik heute ein angesehenes und einflussreiches Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Hans Dembowski sprach darüber mit Quentin Peel, einem erfahrenen britischen Presse­korres­pondenten in Berlin.

Interview mit Quentin Peel

Es ist erstaunlich: Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg überall verhasst, aber heute sind wir mit allen Nachbarländern gut befreundet. Haben die Nachbarn uns mit dem Mittel der europäischen Integration ­zivilisiert?
Da ist etwas dran. Die Bundesrepublik musste sich in diesem Kontext an westliche Demokratievorstellungen halten. Andererseits war sie aber selbst eine treibende Kraft. Bundeskanzler Konrad Adenauer und seine Nachfolger wussten, dass sie dank euro­päischer Integration wieder Ansehen und sogar Einfluss gewinnen konnten. Dass andere europäische Spitzenpolitiker auch bereit waren, aus den Schrecken zu lernen, Souveränität zu teilen und enger zu kooperieren, war natürlich hilfreich.

Zuvor hatte Deutschland alle Souveränität verloren und wurde sogar in zwei geteilt. In den Nürnberger Prozessen wurden Naziver­brecher verurteilt, wodurch internationales Strafrecht etabliert wurde. Westdeutschland wurde nicht nur aus eigenem Antrieb zur Demokratie, aber die Bevölkerung war dankbar für diese zweite Chance. Damals waren Nachbarn misstrauisch, aber heute scheint keiner mehr Zweifel an der deutschen Demokratie zu haben.
Das stimmt, und ich kenne auch kein anderes Land, das so viel getan hat, um sich den Schrecken seiner Vergangenheit zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden. Sie haben das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das recht beliebt ist. Im ganzen Land gibt es jüdische Museen. Auf Bürgersteigen erinnern „Stolpersteine“ aus Messing an Menschen, die in den jeweiligen Häusern gewohnt haben, bevor sie im KZ ermordet wurden. Ein klares „Nie wieder“ durchzieht das ganze öffentliche Leben.

Woran merken Sie das noch?
Als ich in den 60er Jahren zum ersten Mal hierher kam, beeindruckten mich junge Leute, die in die Tschechoslowakei reisten, um Theresienstadt und andere Orte des Nazigrauens zu besuchen. Sie gehörten derselben Nachkriegsgeneration an wie ich, trugen also keine persönliche Schuld. Aber sie beharrten darauf, sie müssten zumindest dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Viel später erzählte mir Joschka Fischer, Ihr früherer Außenminister, dass er und andere seiner Altersgruppe immer das Gefühl hatten, ihre Eltern und Lehrer seien schuldig. Das hat die Protestbewegungen in den 60er und 70er Jahren angetrieben. Sie hatten das Gefühl, die Vergangenheit werde absichtlich vertuscht. Im Rückblick ist es erstaunlich, wie sehr sich ihre Sicht der Naziherrschaft durchgesetzt hat.

Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker in den 80er Jahren sagte, das Kriegsende am 8. Mai 1945 sei ein Tag der Befreiung gewesen, waren viele konservative Deutsche empört. Heute würde ihm kaum jemand von öffentlichem Rang widersprechen.
Genau, und dieses „Nie wieder“ äußert sich auch auf andere Weise. Die Deutschen haben beispielsweise eine vernünftige Haltung zum Datenschutz. Sie wollen nicht, dass alle möglichen Einrichtungen Informationen über sie sammeln, was offensichtlich auf schreckliche Geheimdiensterfahrungen zurückgeht. Außerdem ist in vielen Institutionen der Bundes­republik das „Nie wieder“ grundsätzlich angelegt.

Zum Beispiel?
Denken Sie an die Bundesbank, die jetzt ein starkes Mitglied des Netzwerks der Europäischen Zentralbank ist. Die Bundesbank ist politisch unabhängig und hat das Mandat der Inflationsbekämpfung – weil makroökonomische Instabilität zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen hat. Das Bundesverfassungsgericht ist ein weiteres Beispiel. Es ist nicht einfach das oberste Gericht; es ist dazu da, das Grundgesetz zu schützen. Die Deutschen wissen nämlich, dass die Demokratie auch von innen bedroht sein kann. Außerdem hat das Verfassungsgericht den Auftrag, bestehendes Recht von totalitären Einflüssen zu reinigen. Wenn es entscheidet, dass eine Regel nicht dem Grundgesetz entspricht, ist sie null und nichtig.

Ist das ein Modell für andere Länder nach politischen Katastrophen?
Ja, in großem Maße. Russland hätte heute vermutlich weniger Probleme, wenn es Michail Gorbatschow nicht nur gelungen wäre, für Glasnost – Transparenz – zu sorgen, sondern wenn er auch noch ein Verfassungs­gericht eingeführt hätte, um Staatshandeln an demokratische Prinzipien zu binden. Allerdings braucht die russische Justiz auf allen Ebenen und nicht nur an der Spitze Reformen, sie ist durch und durch politisiert und korrupt. In Deutschland haben Sie heute jedoch das Problem, dass Sie sich an Regeln halten, es Ihnen aber schwerfällt, Regeln zu ändern, wenn diese nicht mehr in die Zeit passen. Andere Europäer irritiert zum Beispiel, welch immense Rolle die Bundesbank und das Verfassungsgericht in der Eurokrise spielen. Die Deutschen reiten obsessiv auf ihren heißgeliebten Regeln über Staatsverschuldung herum, aber sie lassen sich nicht auf Diskussionen über makroökonomische Ungleichgewichte ein, die aber auch Grund der Krise sind. Deutschland hat erheblich von Exporten in andere EU-Länder profitiert, und deutsche Banken haben Schuldenprobleme in anderen Nationen mit verursacht, weil sie schlechten Schuldnern dort Geld geliehen haben. Deutschland tut sich manchmal schwer damit, sich auf Wandel einzustellen, weil es auf Regeln und Verfahren beharrt. Diese Haltung ist im Prinzip gesund, aber sie darf nicht übertrieben werden.

Vielen Deutschen behagt die Währungsunion nicht, aber dennoch gibt es hier keine relevante euroskeptische Partei. Warum nicht?
Ich glaube, die Deutschen wissen, dass die EU für ihr Land wirklich gut ist. In den Niederlanden kann sich ein Populist wie Geert Wilders ausländerfeindlich und EU-skeptisch zugleich geben und damit Stimmen gewinnen. Aber in Deutschland würden die Leute denken, der klingt wie ein Nazi, das wollen wir nicht.

Aber es gibt Nazis, und die NPD sitzt sogar in zwei Landtagen.
Das stimmt, aber in anderen Ländern sind Rechtsradikale viel stärker. Andererseits bleibt die Wiedervereinigung Deutschlands eine Herausforderung; die Einheit ist noch nicht erreicht. Es gibt viel Wut, ­besonders unter jungen Leuten im Osten, die dringend bessere Zukunftsaussichten brauchen. Manche finden die Nazi-Ideologie attraktiv, sie romantisieren die vorchristlichen Germanen, verehren die Natur und glauben an eine aggressive Selek­tionslehre. Das Problem ist – weit über jugendliche Frustration hinaus –, dass ganz gewöhnliche Leute in manchen Gegenden Naziattitüden ak­zeptabel finden.

Das SED-Regime war aber doch immer stolz auf seinen Antifaschismus.
Ja klar, aber das war zynisch. Man musste nichts weiter tun, als sich zum Sozialismus zu bekennen, und dann war alles vergessen. Der Vergangenheit hat sich das Regime nie ernsthaft gestellt.

Es wurde viel getan, um mit der SED-Vergangenheit aufzuräumen. Die Stasizentrale in Berlin ist jetzt ein Museum. Für die Stasiakten gibt es eine Behörde, und Stasiverfolgte haben Zugang. Selbst die SED hat sich mehrfach umgebildet und ist nun Teil der Linkspartei. Es scheint fast, als hätten wir die SED-Vergangenheit Ostdeutschlands besser im Griff als die Nazivergangenheit dort.
Ich sagte ja schon: Die deutsche Einheit bleibt eine Herausforderung. Das Gute daran ist, dass sie Deutschland kein Vergessen und keine Selbstgefälligkeit erlaubt.

Beweist aber nicht die Tatsache, dass drei Neonazis jahrelang unerkannt Morde begehen konnten, dass deutsche Behörden auf dem rechten Auge blind sind?
Das trifft auf einige Geheimdienstleute zu, aber ganz bestimmt nicht auf deutsche Behörden im Allgemeinen. Und die Geheimdienste stehen nun zu Recht auf dem Prüfstand. Ich habe jedenfalls großes Vertrauen in die deutsche Demokratie.

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