Mikrofinanzierung

Mehr als mehr Einkommen

Die Mikrokreditvergabe hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Aufsehen erregt – insbesondere durch Muhammad Yunus und seine Grameen-Bank in Bangladesch. Heute wird sein Konzept in vielen Ländern nachgeahmt – auch in Argentinien. Die Mikrokredite der Fundación León bewirken weit mehr als eine bloße Einkommenssteigerung.


[ Von Inka Rank ]

Soledad ist 37 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Familie am Rande von San Miguel de Tucumán, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Argentiniens, in einem großen Betonwohnblock aus staatlichem Wohnungsbau. Ihr Viertel West II ist ein sozialer Brennpunkt. Viele der Bewohner arbeiten im informellen Sektor und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Die meisten haben keine Krankenversicherung, obwohl sie aufgrund prekärer Wohnsituation und Mangelernährung besonders anfällig sind. Die Kriminalitätsrate ist hoch, viele Männer sind Alkoholiker oder drogenabhängig, etliche Frauen depressiv.

Auch Soledad ging es früher oft schlecht. Die Sekundarschule hat sie nicht abgeschlossen, „daher ging ich keiner geregelten Tätigkeit nach und fühlte mich unnütz“. Bis ihr eine Nachbarin von der Fundación León erzählte. Diese Stiftung vergibt Mikrokredite in benachteiligten Vierteln rund um San Miguel de Tucumán. Die Stiftung hat dasselbe Konzept wie ursprünglich die Grameen Bank in Bangladesch. Um einen Kredit zu erhalten, müssen sich Interessierte mit vier weiteren Personen aus ihrer Nachbarschaft zusammenschließen. Das sind fast nur Frauen – obwohl auch Männer einen Kredit aufnehmen könnten. Die Gruppe gibt sich gegenseitige Kreditsicherung; gerät eine von ihnen in Schwierigkeiten und kann ihre Raten nicht abbezahlen, müssen die fünf Frauen gemeinsam eine Lösung finden.

Anerkennung und finanzielle Unabhängigkeit

Für Soledad und ihre Nachbarinnen war dies eine neue Erfahrung. „Es erstaunte mich, dass die Mitarbeiter der Stiftung uns einen Kredit geben wollten, ohne dass wir etwas unterschrieben. Unsere Betreuerin animierte jede einzelne von uns, sich ein Projekt zu überlegen, auf das sie Lust hatte.“

Soledad besuchte einen Computerkurs. Heute gestaltet sie Glückwunsch- und Visitenkarten und Werbeflyer. Von den 600 Pesos (rund 110 Euro) Kredit, hat sie einen Drucker, Patronen, bunte Kartons und Papier gekauft. Schon bald kamen die Nachbarn mit Wünschen für Einladungen und Visitenkarten zu ihr, ein solches Angebot gab es im Viertel bis dahin nicht. „Heute fühle ich mich verwirklicht“, sagt Soledad. „Ich habe mein eigenes Projekt und meine eigene Verantwortung. Ich werde anerkannt und verdiene mein eigenes Geld.“

Soledad trifft sich nun jede Woche im Nachbarschaftszentrum des Viertels mit ihrer Gruppe und bis zu 40 weiteren Kreditnehmerinnen. Hier werden die wöchentlichen Rückzahlungen getätigt und Erfolge und Probleme besprochen. So bekommen alle mit, wer vorankommt und wer Schwierigkeiten hat. Das dient der sozialen Kontrolle und fördert die gegenseitige Unterstützung. Die Frauen handeln mit Kosmetik, Kleidung, Spielzeug und Handarbeiten, verkaufen hausgemachte Empanadas oder betreiben einen Gemüseladen oder Friseursalon. Ana handelt mit Kleidung. Sie sagt: „Der Austausch hilft uns. Zum Beispiel erzählt eine ihr Problem und eine andere weiß eine Lösung. Vielleicht hatte ich dieses Problem selbst noch nicht, aber wenn es kommt, weiß ich, was zu tun ist. Das ist wichtig.“ Ihre Freundin Veronica sagt: „Es ist eine schöne Erfahrung. Die Mitarbeiter der Stiftung haben uns gezeigt, was Solidarität bedeutet.” Ana stimmt zu: „Wir helfen uns. Wenn eine von uns krank ist, nehme ich ihre Sachen mit und verkaufe für sie.“

Mangel an Verwirklichungschancen

Ziel der Mikrokreditvergabe ist die Armutsbekämpfung. Aber: Erreicht das Mikrokreditangebot tatsächlich die Armen? Und hilft der Kredit aus der Armut heraus? Beide Fragen werden in der Mikrofinanzwelt kontrovers diskutiert. Einkommen allein reicht zur Betrachtung von Armut nicht. Es ist lediglich einer von vielen Indikatoren. Nobelpreisträger Amartya Sen sieht Armut als Mangel an Verwirklichungschancen. So gesehen geht es nicht nur um quantitativ Messbares wie Einkommen, Nahrungssicherheit und Bildung, sondern auch um subjektive Dinge wie Lebensqualität, gesellschaftliche Teilhabe, Vertrauen in die Zukunft, Selbstbestimmtheit und Selbstachtung.

Die Kundinnen der Fundación León sind arm. Ihre Ernährung ist einseitig und manchmal knapp. Die meisten Frauen haben, wie Soledad, keinen Schulabschluss, trotz kalter Winter selten eine Heizung und viele klagen über die hohe Kriminalität. Dennoch gehören sie nicht zu den Ärmsten der Armen. Niemand aus ihren Familien besucht einen öffentlichen Speisesaal, alle sind gesellschaftlich integriert.

Tatsächlich bleiben die Ärmsten der Armen ausgeschlossen. Die Fundación León vergibt Mikrokredite in einer städtischen Region – anders als Mikrofinanzinstitutionen in Ländern wie Bangladesch. Arme Menschen können sich in ländlichen Regionen eher selbst versorgen, in der Stadt ist das schon schwieriger. Wer Hunger leidet, wird den Kredit zwangsweise eher in Lebensmittel investieren als für eine Einkommen generierende Tätigkeit nutzen. Städtische Arme sind also auf staatliche Hilfen – öffentliche Speisesäle etwa – angewiesen. Ein Mikrokredit, den sie nicht abbezahlen können, könnte sie in die Schuldenfalle treiben.

Initiative und Ausdauer

Aber auch weniger schlecht Gestellte haben Hürden zu überwinden. Mangelndes Vertrauen hindert viele daran, sich auf das Programm einzulassen. Beti etwa gründete vor einigen Monaten mit vier Nachbarinnen eine Gruppe. Doch sie wurde enttäuscht: „Bei strömendem Regen und in der größten Mittagshitze bin ich zu den Treffen erschienen – die Anderen aber fehlten.“ Sie stieg aus der Gruppe aus. „Ich wollte nicht für die Frauen geradestehen müssen, die ihr Wort nicht halten. Und ich hatte keine anderen vier Nachbarinnen, denen ich vertrauen würde.“

Wer einen Mikrokredit erhalten will, muss Initiative zeigen, ein eigenes unternehmerisches Projekt entwerfen und Ausdauer beweisen. Wie Norberto Kleiman, Präsident der Grameen Stiftung in Buenos Aires, sagt: „Die Fundación León ist seit 2007 tätig. Es ist normal, dass nach so einer kurzen Zeit nicht die Ärmsten erreicht werden. Viele sagen: ‚Das ist nichts für mich, ich kann das nicht schaffen.’ Aber wenn sie sehen, dass ihre Nachbarn, die in einer ähnlichen Lage sind, es können, dann trauen sie sich auch. Wir setzen längerfristig auf einen Imitationseffekt.“

Verbesserte Lebensqualität

Befragungen der Autorin zeigen, dass die Kreditnehmerinnen in Tucumán durch Gründung oder Ausbau ihres Mikrounternehmens monatlich etwa 400 Pesos (rund 73 Euro) mehr haben. Einige investieren das Geld in den Ausbau ihres Warenbestandes. „Jetzt verkaufe ich mehr, weil ich mehr habe“, sagt Ana. „Die Leute kommen und wissen, dass sie bei mir finden, was sie suchen.“ Der Mikrokredit hat einen positiven Kreislauf in Gang gesetzt und verschafft ihnen materielle Sicherheiten.

Eigenes Geld zu haben und frei darüber zu entscheiden steigert die Lebensqualität der Frauen. „Für meinen Mann haben andere Dinge Priorität. Also spare ich mein eigenes Geld und kaufe, was mir gefällt. Ich kann mir auch mal ein Parfüm leisten, mich etwas zurechtmachen“, sagt Ana. „Vielleicht sind es Kleinigkeiten, aber ich fühle mich besser.“ Ana ist zum ersten Mal finanziell unabhängig von ihrem Mann, was ihr Selbstbewusstsein sichtlich steigert. „Ich habe aber auch gelernt, das Geld nicht zu verschwenden. Was ich hart erarbeitet habe, schätze ich. Das meiste in­vestiere ich gleich in neue Ware.“ Und Soledad ergänzt: „Ich kann meinen Mann jetzt unterstützen. Finanzielle Entscheidungen treffen wir nun auf Augenhöhe. Das hat unser Verhältnis verändert. Und weil es mir insgesamt bessergeht, haben sich die familiären Verhältnisse entspannt.“

Veronica hat sich durch den Verkauf von Empanadas verändert. „Die Nachbarn kennen mich jetzt alle. Früher war ich miss­trauisch, heute gehe ich hinaus, unterhalte mich und biete meine Ware an. Ich bin viel kommunikativer.“ Das soziale Netz der Kreditnehmerinnen vergrößert sich. So entstehen neue Möglichkeiten sich auszutauschen, oder gemeinsame Interessen zu verfolgen. Soledad (span.: Einsamkeit) und ihre Mitstreiterinnen sind nun nicht mehr allein. Vor allem aber haben sie erkannt, dass Armut keine Eigenschaft ist und man ihr entkommen kann. Das ist der wichtigste Schritt auf dem Weg aus der Armut. Soledad weiß: „Es war kein großer Kredit, aber für uns war er großartig.“

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