Kommentar

Glaube und Sieg

Mitte Januar sind in Ägypten die Unterhauswahlen zu Ende gegangen – mit einem erdrutschartigen Triumph der religiös motivierten Parteien. Dieses Ergebnis wird die neue ägyptische Verfassung prägen. Die zukünftige Rolle des Militärs bleibt derweil ungewiss.

Von Ronald Meinardus

Die Ägypter legen zurzeit wahrlich einen Wahlmarathon hin: Gerade erst haben Parteien und Kandidaten ihre Plakate für die Unterhauswahlen abgehängt, schon beginnen die Vorbereitungen für die Oberhauswahl. Doch die wichtigste Entscheidung für die Zukunft des Landes ist bereits getroffen. Das soeben gewählte Unterhaus wird das Gremium benennen, das die neue Verfassung ausarbeitet.

Das Mitte Januar verkündete Ergebnis ist eine klare Entscheidung für islamisch geprägte Politik. Alle hatten bereits mit einem hohen Sieg der Muslimbrüder und ihrer Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) gerechnet, die in der Tat rund 47 Prozent der Sitze erhielt. Eine politische Sensation aber war das Abschneiden der Allianz der Salafisten und ihrer Partei Nour (Licht), die als zweitstärkste Kraft ein Viertel der Mandate gewann.

Im Gegensatz zur FJP, die man im ägyptischen Kontext als gemäßigt bezeichnen muss, möchten die radikal-islamistischen Salafisten die individuelle Lebensführung der Bürger und die öffentliche Ordnung konsequent nach den Gesetzen des Koran regeln. Ihr starkes Abschneiden ist den Muslimbrüdern ein Dorn im Auge, gleichwohl bietet es möglicherweise auch eine Chance – denn im Vergleich können sie sich als gemäßigte Kraft profilieren.

Es erscheint fast paradox, dass die „Helden vom Tahrir-Platz“ bei den Wahlen kaum eine Rolle spielten. Nach langen Boykottaufrufen und Straßenprotesten hatte sich zwar eine Gruppe von Aktivisten entschieden, zur Wahl anzutreten, sie erreichten am Ende jedoch gerade einmal zwei Prozent der Sitze. Auch Ägyptens säkulare Kräfte – Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten und Liberale – haben ihr Wahlziel deutlich verfehlt. Gemeinsam wollten sie zumindest eine Sperrminorität gegen die islamistischen Parteien erreichen, wofür sie ein gutes Drittel der Sitze benötigt hätten. Am Ende kamen sie zusammen nur auf ein Fünftel der Mandate.

„Die Liberalen haben den Fehler gemacht, sich als anti-islamische Alternative profilieren zu wollen“, sagt Shadi Hamid vom Brookings Center in Doha. „Um eine Mehrheitspartei zu werden, müssen sie lernen, die Sprache der Religion zu sprechen.“

Diese Sprache haben sehr erfolgreich die religiösen Parteien eingesetzt: Schon früh war es ihnen gelungen, Glaubensfragen zum beherrschenden Thema des Wahlkampfes zu machen und damit die mehrheitlich tiefreligiöse Wählerschaft zu erreichen. Laut Umfragen sind rund
90 Prozent der Ägypter der Überzeugung, die Sharia habe die Grundlage der Politik zu sein. Auch strategisch und finanziell sind die islamistischen Parteien ihren Gegnern haushoch überlegen.

Die neu gewählten Parlamentarier werden nun als Erstes ein 100-köpfiges Gremium berufen, das eine neue Verfassung schreiben soll. Nach dem Willen des Obersten Militärrates, der seit vergangenem Februar das Sagen hat, soll die Verfassung dann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Im Anschluss sollen Mitte Juni die Präsidentschaftswahlen stattfinden. Zum 1. Juli 2012 will das Militär dann die Macht an ein demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt übergeben.

Doch noch ist offen, welche Rolle das Militär in Zukunft wirklich spielen wird. Auch darüber wird in diesen Tagen und Wochen entschieden. Die mit vielen Privilegien ausgestatteten Streitkräfte werden wohl kaum ohne einen wie auch immer gearteten Bestandsschutz die Bühne verlassen. Den Muslimbrüdern, die sich den Streitkräften gegenüber betont versöhnlich geben, wurde bereits vorgeworfen, sie hätten unter dem Tisch einen Deal mit dem Militärrat geschlossen. Verstärkt wurde dieser Eindruck, als ein führendes Parteimitglied dem Militär Immunität anbot für die Zeit nach der Machtübergabe.

Ein Jahr nach der Revolution ist Ägypten nicht wiederzuerkennen. Aber die Träume der Revolutionäre der ersten Stunde bleiben unerfüllt. Doch die Ägypter hatten die Wahl – und haben sie auch weiterhin.

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