Soziale Inklusion

Saat für eine bessere Zukunft

Die kolumbianische Gesellschaft ist von gewaltsamen Konflikten geprägt. In den ländlichen Gebieten kämpfen Rebellen und Mafiabanden mit den Sicherheitskräften; in den Städten prägen Gewaltverbrechen den Alltag. Mehr als 5 Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Der Staat bietet ihnen keine ausreichende Unterstützung. Daher versuchen zivilgesellschaftliche Aktivisten ihre Situation zu verbessern.
Das Gemälde Chichamama auf den Wänden der Stadtfarm Mutualitos. BogotArt Das Gemälde Chichamama auf den Wänden der Stadtfarm Mutualitos.

Drogenhandel und Krieg sind seit Jahrzehnten Teil des Alltagslebens in Kolumbien. In den Stadtvierteln Bogotás haben Gewaltverbrechen zugenommen. Die Mitglieder der kriminellen Banden kommen meist aus den Slums. Ihnen fehlt es an alternativen Perspektiven.

Nur die oberen Klassen der Gesellschaft haben Zugang zu Kunst. Sie gehen zu Ausstellungen und in Museen – der Rest der Gesellschaft bleibt außen vor. Der Zugang zu qualifizierter Bildung und gut bezahlten Jobs ist ebenso der Elite vorbehalten. Den Menschen aus den Armenvierteln fehlt es an Möglichkeiten, ihre Weltsicht zu hinterfragen und zu definieren.

Die Stiftung BogotArt will dieser Ungleichheit entgegenwirken: Wenn Bürger aus den unterprivilegierten Vierteln nicht dahin gehen können, wo Kunst stattfindet, muss die Kunst zu ihnen kommen. Wir fühlen uns als Akteure eines urbanen Wandels und nutzen Wände im öffentlichen Raum, um Bilder zu malen. Was wir bieten, diskriminiert niemanden, weil die Wände für alle da sind, unabhängig von sozialer Schicht, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit.

Eine Bevölkerungsgruppe, die besonders benachteiligt ist, sind die Binnenvertriebenen (internally displaced persons – IDPs). Mehr als 400 000 von ihnen leben im Ballungsraum Bogotas. Diese Menschen sind vor Gewalt geflohen, um ihr Leben zu retten, nur um in ihrer neuen Heimatstadt als Fremde betrachtet zu werden.

 

Heimkehr nicht möglich

Die Vertriebenen haben kaum eine Chance, jemals nach Hause zurückzukehren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass illegale Gruppen wie die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), die ELN (Ejército de Liberatción Nacional) oder andere kriminelle Banden noch immer dort sind. Sie sind gewalttätig und haben wenig Erbarmen mit Leuten, die Land zurückfordern, das ihnen einmal gehört hat.

Die kolumbianische Gesellschaft ist multikulturell. Es gibt indigene Gemeinschaften, Mestizen, Afro-Kolumbianer, Menschen europäischer Abstammung und viele Kombinationen. Die Machtlosen und Armen sind stärker gefährdet, von ihrem Land vertrieben zu werden. Besonders betroffen sind Afro-Kolumbianer und die indigene Bevölkerung.

Verschiedene zivilgesellschaftliche Aktivisten versuchen, das Schicksal der Vertriebenen in Bogotá zu verbessern. Rosa Evelia Poveda Guerrero ist eine solche Aktivistin. Sie leitet Mutualitos, eine urbane Farm und Schule in einem Slumviertel der Stadt. Ihr Ziel ist es, zu nachhaltigem Frieden beizutragen, indem sie eine „Saat der Hoffnung sät“.

Als sie vor fast zehn Jahren nach Bogotá kam, hatte sie nichts als ihre Entschlossenheit, Krieg und Tod hinter sich zu lassen. Sie fand ein leerstehendes Grundstück. Es war voller Müll, aber sie sah darin das Potenzial, es zum Ort einer urbanen Revolution zu machen. Sie wollte das Landleben in die Stadt bringen. Rosa räumte das Grundstück auf und begann traditionelle Früchte und Gemüse anzubauen. Sie vermeidet Chemikalien und künstliche Dünger, weil sie glaubt, dass die Erde selbst die notwendigen Nährstoffe zur Verfügung stellt. Sie benutzt nur traditionelles Saatgut, wie es ihre Großmutter schon getan hat. Rosa hält auch einige kleine Tiere wie Hühner und Kaninchen.

Ihr Ziel ist es, jungen Menschen beizubringen, dass sie Ernährungssicherheit und damit Unabhängigkeit auch ohne konventionelle Bildung erreichen können. Sie inspiriert ähnliche Projekte, die darauf zielen, Fähigkeiten zu erlernen und außerhalb des Marktsystems seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist etwa möglich, ökologisch angebaute Früchte und Gemüse sowie verschiedene andere Dienstleistungen gegen andere Produkte und Dienstleistungen zu tauschen. Dieses Tauschsystem heißt „mano cambiada“ (von Hand zu Hand). Rosa lädt Schüler und Studenten sowie Jugendliche aus der Nachbarschaft nach Mutualitos ein und zeigt ihnen, wie biologischer Anbau auf der Farm funktioniert.

Als Kleinbäuerin greift Rosa auf die Traditionen der ländlichen Gemeinschaft zurück, aus der sie stammt und gibt einem städtischen, von vier Mauern umgebenen Stück Land neues Leben. Von zu Hause bringt sie das Wissen mit, wie man verschiedene Pflanzen umweltfreundlich anbaut.

Rosa wird von den anderen Bewohnern in der Nachbarschaft sehr geschätzt, denn Rosa ist jemand, der junge Menschen im Viertel inspiriert. Durch ihr Vorbild gelingt es ihr, junge Menschen zu motivieren, sich friedlich zu engagieren. Viele von ihnen haben eine gewalttätige und kriminelle Vergangenheit und waren zum Beispiel an Drogenhandel und Raub beteiligt. Indem Rosa die Saat der Hoffnung – sowohl metaphorisch als auch ganz real – sät, zeigt sie, dass es möglich ist, die Einstellung von Menschen zu ändern, wenn man ihnen eine inspirierende Alternative und neue Wege im Leben aufzeigt.

Das Viertel, in dem ihr Grundstück liegt, heißt la Perseverancia („Entschlossenheit“), ein Name, der Rosas Einstellung gut beschreibt. „La Perse“, wie das Viertel genannt wird, kann ziemlich gefährlich sein, aber die Situation war früher noch viel schlimmer. Vor ein paar Jahren gab es einen Überfall auf Rosas Farm, bei dem ihre Tochter verletzt und ein paar Sachen gestohlen wurden. Weil die Bewohnern des Viertels Rosa mögen, halfen sie ihr, den Räuber zu finden. Er kam ins Gefängnis und kein anderer hat Rosa, ihre Farm oder ihre Familie seither angegriffen.

 

Ansteckende Ideen

Rosas Ideen sind ansteckend. Auch andere Leute haben mit urbaner Landwirtschaft begonnen. Rosa ist eine starke Frau und wusste schon immer, dass sie ihre eigene Realität gestalten kann. Wenn ihr die Regierung nicht hilft, hilft sie sich selbst – und zwar mit Kreativität. In glücklicheren Ländern übernimmt die Regierung die Arbeit, die Rosa macht, oder würde sie unterstützen. In Kolumbien sind es Privatpersonen, die sich den Herausforderungen von Mangel, Ungerechtigkeit und Exklusion stellen.

Rosa hat eine Oase der Hoffnung geschaffen. Und es ist ihr gelungen, frühere Bandenmitglieder in produktive Mitglieder der Gesellschaft zu verwandeln. Die Stiftung BogotArt teilt mit ihr das Ziel, junge Menschen zu inspirieren, und ist daher eine Partnerschaft mit Mutualitos eingegangen. Die Idee war, Rosas Einsatz für den Schutz der Natur in ein sichtbares Kunstwerk umzusetzen und dafür die Mauern ihres Grundstücks zum Sprechen zu bringen. Zwei junge Leute aus La Perse, eine Künstlerin aus Dänemark (bekannt als La Extranjera oder die Fremde) und ein kolumbianischer Maler haben sich für das Wandgemälde mit dem Titel „Chichamama“ zusammengetan. Chicha ist ein traditionelles, auf Mais basierendes Getränk, das verschiedene indigene Gemeinschaften in ganz Kolumbien machen. Mais war die Hauptnahrung der indigenen Gruppe der Muisca. Es war nicht nur zentraler Nährstoff für den Körper, sondern auch für die Seele.

Der Name „Chichamama“ ist verwandt mit „Pachamama“, einer Bezeichnung der Inka für Mutter Erde. Die indigenen Kulturen in den Anden haben immer die Beziehung zwischen der Menschheit und der Natur betont, wobei das Schicksal der Menschen dadurch definiert war, wie sie zur Mutter Natur standen. Wir wollen zeigen, dass es noch immer möglich ist, sich auf die Natur zu verlassen.

 

Leonardo Párraga ist Gründer der Stiftung BogotArt, einer Initiative, die Kunst dazu nutzt, soziale Exklusion, Stereotypen und undemokratische Einstellungen in der Gesellschaft in Bogotá zu bekämpfen. Er hat Naturwissenschaften, Business Management und Journalismus an der Universidad de los Andes studiert.
leonardo@bogotart.org
http://www.bogotart.com

 

 

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