Wachstumsmodelle

Falsche Fährte

Viele Analysen zu den Faktoren, die Wirtschaftswachstum erklären, bieten einfache Antworten auf schwierige Fragen. Das macht sie verführerisch und gefährlich zugleich, erklärt ein neues Politikpapier.

Eine Wachstumsstrategie zu entwi­ckeln gleicht der Besteigung eines Berges, dessen Gipfel im Nebel liegt, schreibt der Ökonom Francisco Rodríguez in einem Papier für das International Poverty Centre in Brasilia. Man hat eine ungefähre Vorstellung von der Topographie, die Details aber liegen im Verborgenen. Gängige volkswirtschaftliche Regressionsanalysen suggerieren, dass alle Berge gleich aussehen – nämlich glatt und regelmäßig wie eine Pyramide. Das macht sie so verführerisch für Wirtschaftspolitiker: Sie vermitteln den Eindruck, es gebe ein für alle Länder gültiges Rezept für Wirtschaftswachstum. Darin, so Rodríguez, liegt aber auch ihre Gefahr: Die Welt der Wirtschaft ist komplexer, als Regressionsanalysen es vorgeben. Stark vereinfachende Wachstumsmodelle führen Politiker manchmal auf die falsche Fährte – und richten entsprechenden Schaden an.

Regressionsanalysen wollen Ursache-Wirkung-Beziehungen zwischen Variablen belegen, zum Beispiel zwischen der Offenheit einer Volkswirtschaft und der Wachstumsrate. Solche Analysen haben drei Schwächen, schreibt Rodríguez: Ers­tens sei die behauptete Kausalität oft fraglich. Regressionsanalysen zeigen, dass sich Offenheit für Exporte und Importe einerseits und Wachstum andererseits gegenseitig beeinflussen. Aber die Richtung der Kausalität ist damit nicht geklärt: Handel mag Wachstum beschleunigen. Ebenso möglich aber ist , dass umgekehrt Wachstum Entscheidungsträger ermutigt, Handelsbarrieren zu senken. Was die Analyse als Ursache und was sie als Wirkung identifiziert, ist abhängig von den Annahmen des durchführenden Wissenschaftlers.

Zweitens sind die Variablen in Regressionsanalysen oft so gewählt, dass die Ergebnisse für Politiker wenig hilfreich sind. Was nützt es einer Regierung, wenn sie weiß, wie sich ein bestimmtes Maß an Offenheit – gemessen als Anteil von Exporten und Importen am Bruttoinlandsprodukt – auf das Wachstum auswirkt? Politiker wollen wissen, was passiert, wenn sie bestimmte Zölle oder andere Handelsbarrieren senken. Zwischen diesen Variablen aber – Zollhöhe und Wachstum – gibt es laut Rodríguez keine messbare Korrelation.

Drittens, so Rodríguez, sind die Ergebnisse häufig nicht sehr verlässlich. Das Hinzufügen oder Weglassen bestimmter Variablen, die Erweiterung oder Verkleinerung der Datenbasis kann sich erheblich auf das Resultat einer Regression auswirken.

Rodríguez räumt ein, dass Wachstumstheoretiker diese Schwächen durch Korrekturen lindern können. Ein Problem aber bleibe bestehen: „Das Arbeitspferd Wachstumsregression steht für die implizite Weltsicht, dass ein bestimmtes Modell für alle Länder gültig ist.“ Laut einer Regressions­analyse beispielsweise, die volkswirtschaftliche Offenheit als Ursache für Wachstum identifiziert, gilt diese Kausalität immer – unabhängig davon, wie offen ein Land bereits ist, wie stark seine Wirtschaft diversifiziert ist oder wie arm oder reich es ist.

Verlässlicher sind laut Rodríguez so genannte nichtparametrische Untersuchungen. Das sind mathematische Analysen, die anders als herkömmliche Regressionen nicht auf a priori festgelegten Variablen sowie Annahmen zu den Korrelationen zwischen diesen Variablen ruhen. Die Struktur nichtparametrischer Modelle ist nicht von vornherein festgelegt, sondern wird aus den vorhandenen Daten entwickelt. Dieses Verfahren, so Rodríguez, sei in den vergangenen zwanzig Jahren stetig verbessert worden und bilde die Wirklichkeit präziser ab.

Ein anderer Weg, die Mängel von Regressionsanalysen zu umgehen, ist laut Rodríguez die „Wachstumsdiagnose“ (growth diagnostics), ein Verfahren, das Ökonomen an der Harvard-Universität entwickelt haben. Diese Methode geht von einem gegebenen Problem aus – zum Beispiel einer zu niedrigen Investitionsquote – und fragt schrittweise nach möglichen Ursachen und den Faktoren, die diese Ursachen hervorbringen. Dadurch, so Rodríguez, lassen sich Fehlanreize in einer Volkswirtschaft identifizieren und korrigieren.

Wer einen wolkenverhüllten Berg besteigen will, muss auf den Boden unter seinen Füßen achten. Und wer eine Wirtschaft in Schwung bringen will, muss deren Struktur studieren. Ein allgemeingültiges Rezept, so Rodríguez, gibt es nicht. (ell)

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