Ehrenmorde

Von den Schwiegereltern getötet

Vor ein paar Jahren wurde ein junger Mann in Südindien auf einer belebten Straße zu Tode zerhackt. Seine Mörder waren eine Bande von Männern – darunter sein eigener Schwiegervater. Laut Polizei musste das Opfer, der 22-jährige Dalit-Mann V. Shankar, sterben, weil er eine Frau aus einer höheren Hindu-Kaste geheiratet hatte. Seine junge Witwe, Kausalya, die bei der Attacke schwer verletzt wurde, ist nun eine bekannte Aktivistin gegen Ehren­morde und Indiens Kastensystem.
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Kausalya und Shankar studierten beide Ingenieurwissenschaften. Im Juli 2015 heirateten sie gegen den Willen von Kausalyas Eltern. Direkt nach der Hochzeit meldeten sie sich bei der Polizei, weil sie um ihr Leben fürchteten. Acht Monate später erfolgte der tödliche Angriff.

Das Leben unzähliger junger Männer und Frauen in Indien ist zerstört, weil sie es wagten, sich in jemanden außerhalb der eigenen Kaste oder Gemeinschaft zu verlieben. Das Kastensystem ist weltweit eine der ältesten Formen sozialer Strati­fikation. Es teilt die Menschen, die zur Hindu-Religion gehören, in vier große Kategorien ein, die dann noch weiter unterteilt sind in zirka 3 000 Kasten und 25 000 Unterkasten; jede von ihnen basiert auf einem bestimmten Beruf. Die Dalits oder „Unberührbaren“ stehen auf der untersten Stufe des Systems. Nach Indiens Unabhängigkeit wurde mit der neuen Verfassung von 1949 das Kastensystem offiziell abgeschafft, aber es bestimmt weiterhin das soziale Leben.

Bis heute werden Dalits diskriminiert. Angesichts der Bedeutung, die die indische Gesellschaft dem Heiraten beimisst, waren Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Kasten schon immer schwierig. Wenn jedoch einer der Brautleute ein Dalit ist, können die Konsequenzen gewalttätig sein bis hin zum „Ehrenmord“. Dieser Akt bezeichnet den Mord eines Menschen durch ein Familienmitglied, motiviert durch die Annahme, dass das Opfer „Schande“ über die Familie gebracht hat.

In einem Urteil von 2006 bezeichnete der Oberste Gerichtshof Ehrenmorde als „barbarisch“ und „absolut illegal“. Nichtsdestotrotz nehmen sie zu. Laut dem nationalen Kriminal-Statistikbüro gab es 251 solcher Morde im Jahr 2015 – fast zehnmal so viel wie die 28 Morde, die 2014 verzeichnet wurden. Die Zahlen für 2016 sind noch nicht bekannt.

Indische Feministinnen wie Brinda Karat und Kavita Krishnan fordern bessere Gesetze. In ihren Augen sollten per Gesetzgebung „selbstgewählte Partnerschaften“ geschützt und „Versuche der Kontrolle über die weibliche Sexualität“ bekämpft werden.

Überlebende wie Kausalya führen diesen Kampf an. Sie erlitt schwere Kopfverletzungen und leidet immer wieder unter Depressionen. Aber sie stand aufrecht im Gerichtssaal und beschuldigte ihre Familie des Verbrechens. Sechs der elf Angeklagten – darunter ihr Vater – wurden zum Tode verurteilt. Ihr Fall ist in Indien sehr bekannt.


Roli Mahajan ist Journalistin und Fotografin. Sie lebt in Neu-Delhi, Indien.
roli.mahajan@gmail.com
 

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