Nachhaltigkeit

„Lokale Strategien ausarbeiten“

Indische Unternehmen haben eine Reihe von Innovationen ent­wickelt, die wichtige Produkte auch für Arme erschwinglich machen. Darüber hinaus versucht der Privatsektor zunehmend, umweltfreundlich zu agieren.

[ Interview mit Sachin Joshi ]

Wie definieren Sie Nachhaltigkeit?
Für Unternehmen bedeutet Nachhaltigkeit, so zu wirtschaften, dass dadurch das soziale, ökologische und wirtschaftliche Kapital wächst. Dabei geht es nicht nur um die einzelnen wirtschaftlichen Aktivitäten selbst. Die Privatwirtschaft muss eine Perspektive haben, wie sie auf lange Sicht einen Mehrwert schaffen kann, ohne dabei die Ressourcen zu erschöpfen. Wenn wirtschaftliche Aktivitäten unser Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen, dann sind sie nicht nachhaltig. Die Umwelt zu schützen reicht allein jedoch auch nicht aus – in einem Land mit so vielen armen Menschen wie Indien muss auch der Lebensstandard steigen. Selbst in den entwickelten Ländern wird es bald das „Business des Business“ sein, mit der alternden Gesellschaft und der ethnischen Vielfalt umzugehen und zugleich konkurrenzfähige Jobs zu schaffen. All das ist Nachhaltigkeit.

In Europa sagen viele Manager, dass sie es sich nicht leisten können, mehr für die Umwelt zu tun. Sehen indische Geschäftsleute die Forderung nach mehr ökologischer Nachhaltigkeit eher als Chance oder als Nachteil?
Das Umweltbewusstsein indischer Geschäftsleute wächst. Da Risiko und Leis­tungsfähigkeit von der Industrie und ihren Einflüssen abhängen, haben die Unternehmen vorbeugende und ausgleichende Maßnahmen verstärkt. Vorangetrieben wurde dieser Prozess vor allem durch eine Erweiterung der Umweltgesetzgebung und ihre stringentere Umsetzung. Unternehmen riskieren, ihre Zulassung zu verlieren, wenn sie gegen Umweltnormen verstoßen. Außerdem können die Kosten, die einer Firma durch Umweltschäden entstehen, die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gefährden – und die Firmen werden zunehmend gezwungen, für diese Kosten aufzukommen.

In Indien leben rund 800 Millionen Arme. Wie kann und muss der Privatsektor zur Armutsminderung beitragen?
Unternehmen sind für die Armutsminderung wichtig. Sie können großen Einfluss nehmen, indem sie Geschäftsmodelle entwickeln, die helfen, Armut zu senken, nachhaltige Existenzgrundlagen zu schaffen oder die Armen weiterzubilden. Außerdem hilft es den Menschen auch, wenn sie nützliche Güter zu erschwinglichen Preisen kaufen können. Unternehmen können in die Entwicklung solcher Güter investieren und dabei mit staatlichen Einrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten.

Aus europäischer Sicht ist Indiens größter Wettbewerbsvorteil das große Angebot an billiger Arbeitskraft. Innovation dagegen entsteht meistens aus dem Wunsch heraus, Lohnkosten zu senken. So gesehen haben indische Geschäftsleute kaum Innovationsanreize. Weshalb sind sie trotzdem so kreativ?
Billige Arbeitskraft ist sicher wichtig – aber das macht Investitionen in Innovation nicht interessant. Niedrige Löhne werden niemals ein Innovationsanreiz sein. Es ist eine Mischung aus Ehrgeiz, Kompetenz und Preisen, die Indien zu einem attraktiven Standort für Innovationen macht. Die reichen Länder sind nicht bestrebt, die Probleme der Armen durch neue Erfindungen zu lösen. Außerdem haben Konzerne aus reichen Ländern nicht die Voraussetz­ungen, diese Erfindungen zu entwickeln, neue Produkte zu entwerfen und auszuprobieren. Es sind die indischen Firmen, die neue Lösungen finden, um beispielsweise Gesundheitsdienste für Arme erschwinglich zu machen. Zum Beispiel ist das Herzzentrum Narayana ­Hrudayalaya in Bangalore einer der weltgrößten und effektivsten Anbieter von Herzchirurgie und kardiologischer Versorgung. Eine Herzoperation kostet dort 1500 Dollar. Durchschnittlich verlangen indische Krankenhäuser 4500 Dollar dafür, und in den USA kostet eine OP rund 45 000 Dollar. Ein anderes Beispiel ist der Godrej Chotukool, ein kleiner batteriebetriebener Kühlschrank für Haushalte mit niedrigem Einkommen – er kostet nur 70 Dollar.

Das international bekannteste Beispiel ist wohl das kleine, energieeffiziente Auto Nano, das Tata, einer der führenden Konzerne Indiens, ent­­wickelt hat. Es ist das billigste Auto der Welt. Ein neuer Nano kostet umgerechnet etwa 2800 Dollar. Deutsche Umweltschützer würden Autos allerdings nicht gerade als umweltfreundliches Produkt bezeichnen.
Ihr Land produziert viele Autos. Aber deutsche Autohersteller konnten bisher mit ihrem Angebot die unteren Einkommensgruppen in Indien nicht erreichen. Man kann noch nicht sagen, ob der Nano wirtschaftlichen Erfolg haben wird, aber er ist in jedem Fall eine große technologische Leistung. Und er hat bereits etwas in Bewegung gesetzt: Multinationale Riesen machen sich nun wieder Gedanken über den Kleinwagenmarkt. Grundsätzlich haben Innovationen entweder etwas mit dem Produktionsprozess oder mit dem Produkt zu tun. In beiden Fällen sinken die Kosten für den Einzelhandel. Bottom-of-the-Pyramid-Märkte – die Märkte der Armen – sind viele Billionen Dollar wert. Geschäftsleute aus Indien und anderen Schwellenländern sehen das als Chance. Manager aus reichen Ländern dagegen sehen ein Engagement auf diesen Märkten oft nur als Pflichtbestandteil ihrer Corporate-Social-Responsibility-Strategie (CSR) – das ist natürlich weniger produktiv.

Was sollten reiche Länder von Indien lernen?
Zunächst einmal sind einkommensschwache Länder kein Abladeplatz für veraltete Produkte und Technologien der Reichen. Die Armen sind bereit, für Qualitätsprodukte und -dienstleistungen zu zahlen. Entwicklungszusammenarbeit sollte auf technische Unterstützung ausgerichtet sein. Multinationale Konzerne sollten erwägen, lokale Strategien auszuarbeiten: Sie müssen Produkte entwickeln, die den Bedürfnissen vor Ort angepasst sind. Es ist sinnvoll, Indien und andere Entwicklungsländer als Testfeld zu nutzen, um bezahlbare Lösungen zu entwickeln, die auch in entwickelten Ländern nützlich sein können.

Können Sie mir ein Beispiel nennen?
GE, das multinationale Unternehmen mit Sitz in den USA, hat das mit einem tragbaren EKG-Gerät gemacht. Der Mac 400 von GE ist handlich. Statt der vielen Knöpfe wie bei den herkömmlichen EKG-Geräten gibt es nur die vier wesentlichen Knöpfe. Statt eines sperrigen Druckers gibt es im Mac 400 eine kleine Funktion, wie sie auch für tragbare Ticketmaschinen genutzt werden. Das Ganze passt in einen Rucksack und läuft mit Batterie. Es kostet 800 Dollar und nicht 2000 Dollar wie die konventionellen EKG-Geräte. Eine Untersuchung kostet nur noch einen Dollar pro Person. In den letzten Jahrzehnten starteten Energie-, Gesundheits- und Finanzsektor ihre Innovationen oft in armen Ländern und kopierten sie dann für die reichen Nationen – Mikrokredite zum Beispiel.

Sie haben schon öfter C.K. Prahalad zitiert: Arme sollten sowohl als Unternehmer als auch als Konsumenten ernst genommen werden. Was bedeutet das für die Unternehmensführung?
Für diesen Ansatz muss das Management der Zuliefererkette verändert werden, ein grundlegendes Umdenken wird genauso erforderlich wie ein Wandel der Organisationskultur. Die neuen Geschäftsmodelle und Organisationskulturen, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Indien entstanden sind, beeinflussen die Betriebswirtschaft schon weltweit – theoretisch und praktisch.

Inwiefern orientieren sich indische Erfinder am Weltmarkt, und in welchem Maße arbeiten sie für den nationalen Markt?
Sie interessieren sich zwar für den Weltmarkt, aber der Inlandsbedarf ist immens. Indische und europäische Unternehmen und Innovateure tauschen unter anderem Wissen und Know-how aus. Viele indische Unternehmen helfen anderen Ländern, Informations- und Kommunikationstechnologien anzuwenden.

Was sollten andere Schwellenländer von Indien lernen?
Da gibt es drei wichtige Punkte: Es ist sinnvoll,
– Innovationen auf unterster Ebene zu stärken,
– Public-Private-Partnerships im sozialen Sektor zu fördern sowie
– in Bildung und Ausbildung zu investieren.

Die Fragen stellten Hans Dembowski und Cathrine Schweikardt.

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