Grundschulen

Enorme Herausforderung

In Indien gehen inzwischen mehr Kinder zur Schule als früher, aber die Grundschulen sind vor allem im ländlichen Raum weiterhin schlecht. Der Verfasser dieses Artikels gehört zu den Santal – einem der vielen Adivasi-Stämme Indiens.
Alternative Grundschule in Ghosaldanga. Samiran Nandi Alternative Grundschule in Ghosaldanga.

Auf der UN-Konferenz in Dakar im Jahr 2000 wurde Bildung für alle bis 2015 (EFA – education for all) zum Ziel erklärt. Seither hat sich in Indien bezüglich Grundbildung viel getan. Einer nationalen EFA-Evaluation von 2014 zufolge sind in den vergangenen fünf Jahren zusätzliche 14,6 Millionen Kinder zur Grundschule gegangen, so dass nun fast alle Kinder der Altersgruppe sechs bis zehn die Schule besuchen. 98 % aller indischen Siedlungen haben mindestens eine Grundschule im Umkreis von einem Kilometer.

Ein Grund für die Neuzugänge ist die kostenlose Schulspeisung, die vor allem das staatliche Programm Sarva Sikha Abhiyan (SSA) bereitstellt. An Schultagen versorgt es 108 Millionen Kinder mit Mittagessen. Wichtig ist auch das neue Gesetz zum Recht auf Bildung von 2009. Dennoch bleibt noch viel zu tun.


Der Boden der Realität

Inzwischen gehen nicht nur mehr Sechs- bis Zehnjährige zur Schule, es brechen auch weniger von ihnen ab. Das muss nun auch bei den Elf- bis 15-Jährigen erreicht werden – und auf weiterführenden Schulen. Laut staatlichen Statistiken brachen 9,1 Prozent der Erst- bis Viertklässler im Jahr 2009/10 die Schule ab. Bei den Fünftklässlern waren es 15,9 Prozent.

Es zeigt sich nun, dass freie Schulspeisung und derlei bei älteren Kindern nicht ausreicht, um sie in der Schule zu halten. Sie plagen Zukunftssorgen für die Zeit nach der Schule sowie der Druck, Geld zu verdienen – nicht zuletzt, um sich Handys und modische Kleidung kaufen zu können.

Tausende von Jugendlichen aus Westbengalen verlassen schon vor Abschluss der Schule ihre Heimat, um in anderen Bundesstaaten zu arbeiten. Die Landesregierung von West Bengalen tut einiges, um sie zum weiteren Schulbesuch zu motivieren, und lockt mit Geschenken wie Schulbüchern, Bargeld, silbernen Armreifen oder Fahrrädern. Kurzfristig funktioniert das, aber viele Schulabbrüche hängen meist mit der sozioökonomischen Lage der Familien zusammen. Meist müssen die Jugendlichen zum Lebensunterhalt beitragen.

Es ist alarmierend, dass immer mehr Kinder von staatlichen Schulen zu Privatschulen wechseln (siehe auch E+Z/D+C-Beitrag von Roli Mahajan). Fast ein Drittel der Sechs- bis 14-Jährigen ging im Jahr 2013 dem jährlichen Bildungsbericht (ASER) von 2014 zufolge auf private Schulen. 2006 war es noch knapp ein Viertel. In den nordindischen Staaten Haryana und Uttar Pradesh werden mehr als die Hälfte der Schüler privat unterrichtet. Offensichtlich mistrauen Eltern den staatlichen Schulen und sind bereit, Schulgeld zu bezahlen – was Arme sich jedoch kaum leisten können.

Es ist erschreckend, dass selbst arme Familien enorme Summen für Privatschulen aufbringen. Bimol Baski aus unserem Dorf Bishnubati in Westbengalen schickt seine beiden Töchter auf eine Schule, wo sie auf Englisch unterrichtet werden. Die Schulspeisung an staatlichen Schulen sieht er kritisch; statt mit dem Unterricht seien Lehrer nun mit der Organisation des Mittagessens beschäftigt.

Bimol will, dass seine Töchter gut Englisch lernen. Es ist aber problematisch, dass die meisten Kinder aus sprachlichen Minderheiten nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Das betrifft uns Santal und alle anderen Adivasi-Stämme – insgesamt rund acht Prozent der indischen Bevölkerung. Viele Adivasis finden, formale Bildung bedrohe ihre Sprache und Kultur.

Angesichts all dessen ist der Erfolg der indischen EFA-Bemühungen fraglich. Hohe Einschulungsraten reichen nicht. Die Bildungspolitik ist wirr und unausgewogen, und der Ruf der staatlichen Schulen leidet.

Der Erfolg von Dorfschulen hängt von der lokalen Gemeinschaft ab. Elternbeiräte müssen die Lehrer kontrollieren. Leider bringen sich auf dem Land aber viele Menschen nicht ein, weil sie meinen, der Staat sei verantwortlich. Zudem dominieren oft Politiker, denen es vor allem um Parteiinteressen geht, die Elternbeiräte. Auf dem Land wäre bessere Koordination zwischen Lehrern, Eltern und Schulverwaltung nützlich.

Laut dem EFA Global Monitoring Report der UNESCO von 2015 hat Indien zwar enorme Fortschritte gemacht, jedoch noch einen langen Weg vor sich. Der Bericht weist auf fortbestehende Ungleichheit hin. Einige Inder sind reich, aber die Masse bleibt bitterarm. Manche Gruppen werden wegen Kaste, Rasse, Glaube und anderen Gründen ausgegrenzt und haben kaum Zugang zu hochwertiger Bildung.


Alternative Schulen

Neben staatlichen und privaten Schulen gibt es etliche innovative Schulen von nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen und Philanthropen. Viele befinden sich in Dörfern und richten sich an jene, die schlechte Bildungschancen haben.

Eine dieser Schulen ist der Rolf Schoembs Vidyashram in unserem Dorf. Darüber habe ich bereits in E+Z/D+C (Printausgabe 2012/09, S. 333 f.) geschrieben. Wir unterrichten auf Santali und haben unsere eigenen Schulbücher erstellt. Zum Lehrplan gehören auch Musik, Mythen, Tanz, Folklore und Adivasi-Geschichte. In einer sich rasch ändernden Welt sind uns unsere Wurzeln wichtig (siehe auch meinen Essay in E+Z/D+C e-Paper 2015/07, S. 21 f.). Wir werden von deutschen Spendern unterstützt.

Ich kenne viele andere NGO-Schulen in Indien (siehe Kasten). Die meisten bewähren sich seit mindestens zwei Jahrzehnten. Sie sind alle nonformal, was in Indien bedeutet, dass die Schüler nicht den staatlichen Lehrplan auswendig lernen müssen. Die alternativen Schulen gehen auf die Bedürfnisse und Interessen der Kinder ein und nutzen eine breite Palette didaktischer Methoden. Sie ähneln darin staatlichen Schulen in reichen Ländern. Es ist belegt, dass die nonformalen Schulen in Indien oft bessere formale Ergebnisse bringen als die Staatsschulen. Das gilt besonders für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.

Es ist falsch, dass viele alternative Schulen nun gedrängt werden, die formalen Vorgaben des Bildungsgesetzes von 2009 zu erfüllen, obwohl Vorschriften zu Fenstergrößen, Schulkleidung oder Lehrergehältern für nonformale Schulen im ländlichen Raum wenig sinnvoll sind. Einige NGOs sind nun überfordert. Es gibt Widerstand gegen eine allzu strikte Durchsetzung des Gesetzes, aber die Angst vor rechtlichen Sanktionen macht den anspruchsvollen Lehrerberuf nicht leichter.


Fazit

Grundschulbildung ist keine isolierte Angelegenheit. Ländliche Gemeinschaften brauchen Bildung – aber ihr Leben hat viele weitere soziale und kulturelle Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt. Die UNESCO fordert deshalb zu Recht einen integrierten Ansatz mit holistischem Konzept.

Indien muss noch viele Hürden nehmen. Nonformale Ansätze dürfen nicht unterdrückt werden, denn sie entsprechen dem mehrsprachigen und multikulturellen Gefüge des Landes. Die Erfahrungen der nichtstaatlichen Schulen sollten die Grundlage der künftigen Bildungspolitik sein.

Geld ist übrigens nicht das Problem. Im Finanzjahr 2011/12 gab die SSA nur 43 Prozent ihres Budgets aus, mehr als die Hälfte wurde gar nicht verwendet. Dieses Geld kann sinnvoll investiert werden. Indien braucht gut ausgebildete, motivierte und sensible Lehrer, die sich mit Leidenschaft und Eifer einsetzen.


Boro Baski arbeitet für die gemeindenahe Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in Westbengalen. Die Selbsthilfeorganisation wird vom Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati e.V. unterstützt.
borobaski@gmail.com

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