Literatur

Für Freiheit und Entwicklung

Die aktuelle Flüchtlingskrise kann auch als Krise der Flüchtlingspolitik verstanden werden. Wie soll das von vielen Seiten geforderte effektive internationale Flüchtlingsregime aussehen, und wer sind die Akteure? So vielfältig die Stimmen derzeit sind, so willkürlich erscheinen oft die verwendeten Begriffe. Die Literatur zeigt, dass Begriffe und Politik nicht voneinander zu trennen sind.
Flüchtlinge erreichen die griechische Insel Lesbos. Panagiotou/picture-alliance/dpa Flüchtlinge erreichen die griechische Insel Lesbos.

Besonders lohnenswert ist ein Blick in die Geschichte des noch jungen Politikfeldes „Flüchtlinge“. Der Flüchtlingsbegriff hat sich im Laufe der Zeit gewandelt: Seit den 1950er Jahren werden Migranten und Flüchtlinge als separate Kategorien verstanden. Flüchtlinge verlassen demnach ihr Heimatland primär aus politischen Gründen, Migranten aus sozioökonomischen. Katy Long (2013) sieht diese Unterscheidung in vielen Fällen als kontraproduktiv an. Zwar habe sich dadurch der Schutz für Flüchtlinge erhöht, durch die Konzentration auf humanitäre Hilfe hätten sie aber kaum Möglichkeiten, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Zuvor bestand das Hauptziel darin, Flüchtlingen den Zugang zu bestehenden Migrationskanälen zu ermöglichen, wobei die Auswahl hauptsächlich unter ökonomischen Kriterien erfolgte. Als größte Herausforderung galten die russischen Flüchtlinge, die ihr Land nach der Oktoberrevolution verlassen mussten. Der 1922 eingeführte Nansen-Pass sollte ihnen die Weiterreise ermöglichen – idealerweise in ein Land, das Bedarf an Arbeitskräften hatte.

Für einige Jahre übernahm die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Vermittlung von Flüchtlingen auf dem internationalen Arbeitsmarkt, wie Long ausführt. So wurden Flüchtlinge zu Arbeitsmigranten gemacht. Die Kehrseite war, dass nicht universeller Schutz, sondern Kriterien wie berufliche Qualifizierung über ihre Aufnahme entschieden. Als Folge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren brach das System weitgehend zusammen. Viele Länder schotteten sich auch vor den Flüchtlingen des Naziregimes ab.

Angesichts von Millionen Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg wurden neue Institutionen geschaffen. Ein Beispiel war die International Refugee Organization (IRO), deren Aufgaben seit 1952 vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR übernommen werden. Viele Staaten rechneten Flüchtlinge auf ihre selbstdefinierten Zuwanderungsquoten an. Ob ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Lagern möglich war, hing von ökonomischen Faktoren ab. Dies führte zu heftigen Vorwürfen der Sowjetunion, Flüchtlingslager dienten als Sklavenmärkte, in denen sich westliche Mächte billige Arbeitskräfte besorgten. Für Long erklären solche Vorwürfe bis heute die Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, Flüchtlinge auch als potenzielle Arbeitskräfte wahrzunehmen.

Rieko Karatani (2005) zeigt auf, wie die Pläne der ILO, sich als zentrale multilaterale Mobilitätsinstitution zu etablieren, an solchen Spannungen scheiterten. Auf einer Konferenz 1951 in Neapel seien die Pläne vor allem von den USA behindert worden, die keine internationale Organisation mit Beteiligung der Ostblockstaaten finanzieren wollten. Stattdessen wurde kurz darauf eine zwischenstaatliche Organisation ins Leben gerufen: PICMME (Provisional Inter-Governmental Committee for the Movement of Migrants from Europe), ein Vorläufer der heutigen, intergouvernementalen Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Long weist darauf hin, dass die IOM bis heute Schwierigkeiten hat, eine Balance zwischen staatlichen Interessen an Migrationsmanagement auf der einen und humanitären Zielen auf der anderen Seite zu finden. Die Vorgeschichte erklärt die fortdauernde Rivalität zwischen ILO und IOM um die Rolle als führende Migrationsorganisation.

Long sieht die frühen Ansätze für ein international verbindliches Flüchtlingsregime nicht als Vorbild, aber als Anregung für eine Alternative zum heutigen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Derzeit setzt die Politik vor allem auf Sesshaftigkeit von Flüchtlingen, etwa in Lagern, und schränkt ihre Mobilität zunehmend ein. Ein Beispiel ist die verschärfte Residenzpflicht in Deutschland. Long plädiert dagegen für eine weitsichtigere Politik, in deren Mittelpunkt nicht Hilfeleistungen, sondern Freiheit und Entwicklung stehen.

Solche Ansätze gibt es schon lange, wie Adèle Garnier (2014) aufzeigt. In den 1980er Jahren vereinbarten UNHCR und ILO eine engere Zusammenarbeit, um die sozioökonomischen Rechte und Integrationsmöglichkeiten von Flüchtlingen besser zu schützen. Die Kooperation intensivierte sich in den folgenden beiden Jahrzehnten; beide Organisationen fühlten sich verstärkt einem Rechte-basierten Migrationsansatz verpflichtet. Sie förderten Projekte wie etwa Unternehmensgründungs-Workshops für Frauen in Flüchtlingscamps. In den vergangenen Jahren kam die Zusammenarbeit allerdings weitgehend zum Erliegen, was Garnier auf Ressourcenknappheit, Wettbewerb zwischen den Institutionen und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen zurückführt. Auch seien viele Staaten nicht bereit, das Recht auf Arbeit von Flüchtlingen anzuerkennen.


Survival Migration

Der Kampf um Begriffe und Kategorien hat für Millionen Betroffene bedeutende Folgen. Alexander Betts (2010), Direktor des Refugee Studies Centre an der University of Oxford und einer der führenden Flüchtlingsforscher, regt deshalb eine neue Kategorie an: Survival Migration. Dieses Konzept umfasst Menschen, die ihr Herkunftsland aufgrund einer existentiellen Bedrohung verlassen haben, für die sie vor Ort keine Abhilfe finden können. Damit lassen sich laut Betts Lücken im institutionellen und normativen Rahmen für Zwangsmigration füllen.

Er weist darauf hin, dass seit der Entstehung des derzeitigen Flüchtlingsregimes – unter den oben erwähnten spezifischen historischen Umständen – neue Ursachen für Zwangsmigration wie Umweltkatastrophen und fragile oder zusammengebrochene Staaten hinzugekommen seien. Zwar werden laut Betts auf regionaler Ebene teils weiter reichende Schutzgründe definiert, die die Grauzone zwischen ökonomisch motivierter freiwilliger Migration und Flucht betreffen. So nennt beispielsweise die „Cartagena Declaration on Refugees“ der zentralamerikanischen Staaten aus dem Jahr 1984 eine „schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung“ als Fluchtgrund. Dennoch hätten viele Menschen auf der Flucht heute nur eingeschränkten Zugang zu internationalem Schutz.

Betts’ Konzept der Survival Migration umfasst drei zentrale Elemente. Zum einen befinden sich die Betroffenen außerhalb ihres Herkunftslandes und werden grundsätzlich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Dieser Punkt ist allerdings diskutabel, denn in Transitländern gilt das oft nicht. Zusätzliche Kategorien wie „Migranten in Notlagen“ (englisch „distress“) oder „Migranten in Krisen(ländern)“ sind daher sinnvoll. Auch fehlt in Betts’ Konzept das Szenario, dass Migranten nicht nur in ihren Herkunfts-, sondern auch in Zielländern in Not geraten können. Ein Beispiel sind philippinische Arbeitsmigranten im Irak und in Kuweit.

Bedeutender ist das zweite Element, das auf eine existentielle Bedrohung abhebt. Betts basiert diese auf den Grundrechten, ohne deren Gewähr auch andere Rechte nicht wahrgenommen werden könnten. Dazu zählen der Anspruch auf „basic liberty“, „basic security“ und „basic subsistence“, wobei insbesondere das Letztere von der derzeit gültigen Flüchtlingsdefinition ausgeschlossen werde. Das dritte Element ist schließlich der Verweis darauf, dass Flüchtlinge die existentielle Bedrohung nicht in ihrem Aufenthaltsland beheben können.

Auch wenn das Konzept der Survival Migration teils weit über bestehende Ansätze hinausgeht, sieht Betts keine zwingende Notwendigkeit, neue Institutionen oder Konventionen zu schaffen. Da sein Konzept weniger auf Ursachen als auf Rechte fokussiert, müsse der Schutz dieser Rechte im Mittelpunkt stehen. Er empfiehlt daher einen sogenannten Soft-Law-Ansatz mit Soll- statt Muss-Regeln, um relevante Menschenrechte in einer einheitlichen Richtlinie für Survival Migrants zu schützen. Als Vorbild dienen ihm dabei die UN-Leitlinien für Binnenvertriebene.

Durchaus in Betts’ Sinn haben die UN im Oktober Richtlinien zu Menschenrechten an internationalen Grenzen veröffentlicht. Sie regeln die grundlegenden Rechte von Migranten und Flüchtlingen. In Zeiten zunehmender Militarisierung an Grenzen und Diskussionen über Schusswaffeneinsatz ist das wertvoll.


Stefan Rother ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Universität Freiburg.
stefan.rother@politik.uni-freiburg.de


Literatur:

Betts, A., 2010: Survival migration: A new protection framework. Global Governance 16 (3): 361–82.
Betts, A., 2013: Survival migration: Failed governance and the crisis of displacement. Ithaca, NY: Cornell University Press.
Garnier, A., 2014: Arrested development? UNHCR, ILO, and the Refugees’ Right to Work. Refuge: Canada’s periodical on refugees 30 (2): 15–25.
Karatani, R., 2005: How history separated refugee and migrant regimes: In search of their institutional origins. International Journal of Refugee Law 17 (3): 517–41.
Long, K., 2013: When refugees stopped being migrants: Movement, labour and humanitarian protection. Migration Studies 1 (1): 4–26.

Links:

Blog des Netzwerks Flüchtlingsforschung:
http://fluechtlingsforschung.net/blog/

Richtlinien zu Menschenrechten an internationalen Grenzen (Recommended Principles and Guidelines on Human Rights at International Borders):
https://gfmd2010.wordpress.com/2014/10/23/un-releases-principles-and-guidelines-on-human-rights-at-international-borders-migration/
 

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