Wanderweidewirtschaft

Früher Ergänzung, heute Konkurrenz

Konflikte im Zusammenhang mit mobiler Viehzucht haben in den vergangenen Jahrzehnten in den Sahelländern Niger, Burkina Faso und Mali stark zugenommen. Sie sind für die derzeitige Destabilisierung der Region mitverantwortlich und könnten sich weiter verschärfen.
Ein Hirte in Burkina Faso treibt seine Herde zu einer Wasserstelle. Böthling/Photography Ein Hirte in Burkina Faso treibt seine Herde zu einer Wasserstelle.

In der Vergangenheit haben sich die beiden vorherrschenden Produktions- und Lebensformen im Sahel, der Regenackerfeldbau und die Wanderweidewirtschaft, auch Transhumanz genannt, gegenseitig ergänzt. In der Regenzeit von Mai bis September bestellen die Ackerbauern im südlichen Sahel ihre Felder. In dieser Zeit befinden sich die Viehzüchter auf Weidegründen weiter im Norden, in Gegenden, die für den Ackerbau aufgrund der niedrigen Niederschläge ungeeignet sind.

Nach der Ernte ziehen die Vieh­züchter mit ihren Herden nach Süden. Dort dürfen sie ihr Vieh auf den Feldern mit den Ernterück­ständen weiden lassen. Dadurch werden auch die Felder gedüngt. Damit die Herden wandern können, gab es im gesamten Sahel Trans­humanz-Korridore, Weiden, die als Raststätten dienen, und Wasser­stellen für das Vieh.


Konfliktursachen

Aus mehreren Gründen ist aus dieser Komplementarität ein großer Konflikt entstanden: Relevant sind Diskriminierung, sich zuspitzende Ressourcenknappheit, der Wandel der Produktionspraktiken, Aufrüstung und gestiegene Fleischnachfrage in reicheren Ländern Westafrikas.

Politische Eliten, aber auch Akteure der internationalen Entwicklungshilfe und die Forschung betrachteten die mobile Viehzucht als ein rückständiges, ineffizientes und umweltschädigendes Produktionssystem. Die Lebensform der nomadisierenden Ethnien, vor allem Fulbe, wird stigmatisiert. Politiker wollen Nomaden sesshaft machen, auch, um sie besser kontrollieren zu können. Ihr ökonomischer Beitrag zur nationalen Wirtschaft wurde dabei lange stark unterbewertet. Erst seit den 1990er Jahren setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Mobilität angesichts der Unberechenbarkeit der Niederschläge im Sahel unverzichtbarer Bestandteil einer umweltangepassten und effizienten Viehzucht ist.
 
Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums, der Übernutzung der Böden und des Klimawandels wächst die Konkurrenz um Land. Sesshafte Bauern haben daher mit Unterstützung lokaler Autoritäten ihre Anbauflächen immer stärker ausgedehnt und Weiden und Durchzugspassagen in Felder umgewandelt. Für die Viehzüchter gibt es kein konfliktfreies Durchkommen mehr. In vielen Fällen werden Felder gezielt so angelegt, dass Herden nicht passieren können, ohne Schaden anzurichten. Lokale Autoritäten nutzen diese „Fallenfelder“ zur Erpressung überhöhter Entschädigungs- und Strafzahlungen.

Die ländlichen Produktionssysteme haben sich verändert. Viehzüchter haben Dörfer gegründet und bestellen Felder, Ackerbauern halten Vieh und düngen ihre Felder selbst. Aufgrund der Ressourcenknappheit müssen nomadisierende Viehzüchter immer weiter in den Süden ziehen. Seit den 1980er Jahren passieren sie die Grenzen zu Nigeria, Benin und Togo und verbringen einen Teil des Jahres in den dortigen Wäldern. Dort kommen sie in erhebliche Konflikte mit lokalen Behörden, Kommunen und Ackerbauern.

Massiv konfliktverschärfend wirkte das Entstehen eines neuen Berufes in den 1990erJahren: der Viehfutterhändler. Diese stammen häufig aus Ackerbauerfamilien. Sie sammeln die Ernterückstände auf den Feldern ein und transportieren sie in die Städte, wo sie sie an urbane Viehhalter verkaufen. So verbleibt kein Futter auf den abgeernteten Feldern für die nomadisierenden Viehzüchter.

Es ist ein regelrechter Wettlauf um die Ernterückstande entstanden. Die Autoritäten versuchen, diesen zu regulieren, indem sie für jede Region ein Datum festlegen, ab dem die Viehhalter Zugang zu den Feldern erhalten. Dieses Datum ist jedes Jahr hoch umstritten. Zu der Zeit kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Ackerbauern – beziehungsweise deren Komplizen in den Behörden – und Viehzüchtern. Willkürliche Verhaftungen von Hirten, Viehdiebstahl und Erpressungen kommen ebenfalls vor.

Die politische Instabilität in den Sahelländern Niger und Mali hat dazu geführt, dass sich Viehzüchter immer stärker bewaffnen. Nomaden haben immer Waffen getragen, um sich und ihre Herden zu schützen. Infolge von Rebellionen und den Bürgerkriegen im Tschad und zuletzt in Libyen ist die Verfügbarkeit von Kriegswaffen in der Region stark angestiegen. Heute tragen Hirten in der Regel Schusswaffen, häufig sogar Maschinengewehre. Ab den 1990er Jahren kam es im Sahel-Raum zu einer Neubewertung der Viehzucht, die vor allem ökonomische Gründe hat. Insbesondere in den südlichen Nachbarländern Nigeria, Ghana und der Elfenbeinküste ist ein rapide wachsender Markt für Rindfleisch entstanden, den der Sahel beliefert. Viehzucht ist dadurch zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden; im Niger ist er der zweitgrößte nach der Uranproduktion.

Lokale Eliten investieren seither massiv in Viehherden. Die Folge ist, dass Vieh häufig nicht mehr in der Hand der Familien aus traditionellen Viehhalterethnien (meist Fulbe und Tuareg) ist, sondern reichen, einflussreichen und „unsichtbaren“ Geschäftsleuten mit guten Beziehungen in die Politik gehört. Diese „neuen Viehzüchter“ nutzen ihren Einfluss, um sich – häufig illegal – Weiden, Wasserstellen und manchmal auch für Ackerbau vorgesehenes Land anzueignen. Durch dieses Landgrabbing entsteht ein neues Konfliktfeld zwischen traditionellen und „neuen“ Viehzüchtern.


Krise als Chance

Die Neubewertung mobiler Viehzucht hat aber auch positive Effekte: In allen drei Sahelländern gewinnt sie an Anerkennung. Die Gesetzgebung ändert sich, und es entstehen Verwaltungsstrukturen, die ein sinnvolles Ressourcenmanagement und konstruktive Konfliktbearbeitung ermöglichen.

Die Erkenntnis, dass sich solche Konflikte nicht autoritär lösen lassen, setzt sich immer stärker durch. Im Niger ist eine vorbildliche partizipative und inklusive Struktur entstanden, mit der Ressourcenkonflikte sinnvoll bearbeitet werden können. Projekte im Zivilen Friedensdienst der Friedens- und Entwicklungsorganisation EIRENE und der GIZ haben dazu beigetragen, Kompetenzen in gewaltfreier Konfliktbearbeitung bei Gemeindevertretern, traditionellen Führern und Viehzüchtervertretern sowie Strukturen für Dialog und Mediation zu schaffen.

Nach Einschätzung nigrischer und malischer Viehzüchterverbände hat sich die Lage im Niger, in Burkina Faso und in Mali in jüngster Zeit entspannt. Die aktuelle Krise in Mali stellt allerdings eine erhebliche Belastung dar, da viele Viehzüchter das Land verlassen und so den Druck auf die umliegenden Länder erhöhen. Politische Instabilität, mögliche Dürreperioden und die neue Tendenz zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter ländlicher Ressourcen stellen ein erhebliches Destabilisierung- und Eskalationspotential dar.


Günter Schönegg ist Berater auf Zeit der Programme im Zivilen Friedensdienst von EIRENE Internationaler Christlicher Friedensdienst in Afrika und hat die Entwicklung der trägerübergreifenden ZFD-Strategie für den Sahel geleitet.
schoenegg@web.de

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