Konfliktschlichter statt Kombattanten

Friedensforscher betonen zu stark die Rolle, die fundamentalistisch ausgelegter Glaube bei der Eskalation von Konflikten spielt. Sie übersehen, dass Religion vielfach auch zu Entspannung und Gewaltprävention beiträgt. Dieses Potenzial muss genutzt werden.

[ Von Markus A. Weingardt ]

Wo Entwicklungsarbeit nötig ist, herrscht nicht nur materielle Not, sondern in aller Regel auch sozioökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Diese Schieflagen sind zugleich Hauptursache von Konflikten und deren gewaltförmiger Eskalation. Durch ideologische oder religiöse Aufladung wandeln sich ursprüngliche Interessenkonflikte um Land, Ressourcen, Wohlstand oder Einfluss rasch in schwer kontrollierbare Wertekonflikte um Wahrheit, Gerechtigkeit, Identität oder Herrschaftssysteme.

Religionen beinhalten und vermitteln bestimmte Werte. Entsprechend will auch religionsbasierte Entwicklungszusammenarbeit nicht nur Interessen befriedigen und Symptome lindern, sondern Problemursachen beseitigen. Sie zielt damit auf nachhaltige Veränderung bestehender gesellschaftlicher, rechtlicher oder wirtschaftlicher Strukturen, berührt also zentrale Wertefragen eines politischen Gemeinwesens. Zudem stellen sich religiöse Entwicklungsdienste an die Seite der Armen, Benachteiligten, Unterdrückten, derer ohne politische Macht und Lobby. Sie geraten dadurch zwangsläufig in einen Konflikt zwischen gesellschaftlichen und/oder politischen Kräften, vielleicht mit einer Regierung.

Religionsbasierte Entwicklungsarbeit impliziert mithin auch – in unterschiedlicher Ausprägung – eine Form der Konfliktbearbeitung. Der Anspruch ist, dass dies friedlich und konstruktiv geschehe, doch besteht ebenso die Gefahr, dass religiöse Akteure der Entwick­lungszusammenarbeit zu einer Verschärfung von Konflikten beitragen. Sie agieren somit unausweichlich im Spannungsfeld zwischen „Konfliktschlichter und Kombattant“ (AG KED 1999: 66).

Die eskalierende Wirkung von Religion ist hinlänglich bekannt. Täglich wird von religiös begründeter Gewalt berichtet, von Attentaten und „Heiligem Krieg“, von Unterdrückung Andersgläubiger und aggressivem Missionsdrang. Jahrelang hat die Friedens- und Konfliktforschung die Religionen ignoriert. Dann aber, angesichts der so genannten „Rückkehr der Religionen“ auf die politische Bühne, wurde eingehend ihr Konflikt- und Gewaltpotenzial untersucht. Seit wenigen Jahren setzt sich immerhin die Erkenntnis einer Ambivalenz des Religiösen durch, also die Anerkennung eines möglicherweise auch Frieden stiftenden Wirkens von Religionen in Konflikten. Von einem ernstzunehmenden, politisch relevanten Friedenspotenzial der Religionen ist aber noch immer viel zu selten die Rede (Weingardt 2007).


Wichtiges Friedenspotenzial

Dabei sind es gerade religionsbasierte Akteure, die seit Jahrzehnten in Dutzenden von Konfliktfällen zur Deeskalation, Gewaltvermeidung und Konfliktbeendigung signifikant und entscheidend beitragen (siehe Kasten nächste Seite). So handelte etwa Papst Johannes Paul II. im Beagle-Konflikt zwischen Argentinien und Chile ein stabiles Friedens- und Freundschaftsabkommen aus, die evangelische Kirche trug maßgeblich zur unblutigen Wende in der DDR bei, und Mahatma Gandhi, aber auch der weitgehend in Vergessenheit geratene Khan Abdul Ghaffar Khan inspirierten auf hinduistischen beziehungsweise muslimischen Grundlagen die gewaltfreie indische Unabhängigkeitsbewegung.

Konstruktiv intervenierende religionsbasierte Akteure sind höchst verschieden. Es handelt sich um Einzelpersonen, aber auch Massenbewegungen, Würdenträger und Laien, organisierte Institutionen und lose Initiativen. Sie lassen sich kaum typologisieren, und es gibt keine zwingend erfolgreichen Charakteristika, zumal sie immer in historisch und politisch völlig unterschiedlichen Situationen agieren.

Dennoch gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Dazu gehören – neben einschlägiger Fachkompetenz – Verbundenheit mit dem Konflikt und den betroffenen Menschen einerseits und Glaubwürdigkeit in Reden und Handeln sowie politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit andererseits.

Vor allem aber genießen sie bei Bevölkerung wie politischen Führern ein Maß an Vertrauen, das nicht­religiösen Vermittlern zumeist versagt bleibt. Nicht Macht, Druck oder materielle Anreize sind ihre Mittel der Wahl, sondern Aufrichtigkeit und Überzeugungskraft. Religionsvertretern wird vielfach ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht, der Türen öffnet und Verhandlungsspielräume schafft.

Dabei ist die ethische Basis solcher (inter-)religiöser Friedenstifter ausgesprochen einfach. Sie beruht auf
– klarer religiöser Positionierung verbunden mit Toleranz gegenüber Anders- und Nichtgläubigen,
– Gewaltverneinung als Ausdruck des Respekts vor Leben und körperlicher Unversehrtheit jedes Menschen und
– Wertschätzung des Gegenübers als einem mit gleichen Rechten und gleicher Würde versehenen Menschen.

Auf dieser ethischen Werteplattform ist es keineswegs erforderlich, dass die Teilnehmer ihren religiösen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch aufgeben – solange sie ablehnen, diese Ansprüche mit Gewalt oder materiellen Versprechungen durchzusetzen, und solange sie akzeptieren, dass auch andere ihre jeweiligen Ansprüche nicht aufgeben.

Wie die religionsbasierten Akteure sind auch ihre Methoden und Maßnahmen ausgesprochen vielfältig: Gesprächsvermittlung und Kurierdienste, Bereitstellung von Verkehrsmitteln oder neutralen Verhandlungsorten, Sicherheitsgarantien und Begleitschutz, neutrale Fachexpertise und Medienkontakte, Vermittlung hinter den Kulissen oder direkte Verhandlungsführung, Moderation von Gesprächen oder Begleitung als „stille Teilhaber“, Gebete und Gottesdienste als Verhandlungselemente oder interreligiöse Dialogveranstaltungen, öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen oder individuell-persönliche Einwirkung auf politische Führer – die Bandbreite ist auch hier viel zu groß, als dass eine Kategorisierung Sinn machen würde. Genauso wenig kann religionsbasierte Konfliktbearbeitung auf bestimmte Typen oder Entwicklungsphasen von Konflikten beschränkt werden.

Alle empirischen Beispiele sind zugleich in ihrem Wesen einzigartig und komplex. Dennoch ist klar, welches Potenzial zu konstruktiver Konfliktbearbeitung den Religionen eben auch innewohnt.

Alle „Heiligen Schriften“ der Weltreligionen können sowohl Gewalt als auch Frieden fördernd interpretiert werden. Jedem Gewalt verherrlichenden Vers lässt sich ein Gewalt verurteilender Vers gegenüberstellen. Häufig werden dann die einen Verse (oder die Schriften einer anderen Religion) sehr wörtlich verstanden, während die anderen Verse (oder die eigenen „Heiligen Schriften“) historisch-kritisch interpretiert und wohlwollend abgeschwächt werden. Trivial und unsinnig ist es ebenso, die bloße Anzahl der einen oder anderen Aussagen gegeneinander aufzurechnen, und daraus Schlüsse über die Gewalt- oder Friedensneigung von Religionen zu ziehen. Unredlich ist auch, die „gute Praxis (oder Lehre)“ der eigenen Religion mit der „schlechten Lehre (oder Praxis)“ einer anderen zu vergleichen. Ambivalenz gehört zum Wesen von Religion wie von säkularen Ideologien. Selbst im Namen der Demokratie werden Kriege geführt und gerechtfertigt.

Es dient nicht einem wirklichen Frieden, wieder und wieder das Konfliktpotenzial von Religionen hervorzuheben und repressive Maßnahmen dagegen einzuleiten, seien es nationale Sicherheitsgesetze oder ein internationaler Kampf gegen den Terror. Hilfreicher wäre, das positive Potential wahrzunehmen, aufzubauen und zu nutzen. Gemäßigte Kräfte und Gruppen innerhalb der Religionsgemeinschaften müssen identifiziert und unterstützt werden, sie brauchen Zugang zu Medien und breiter Öffentlichkeit, Kontakte innerhalb und außerhalb ihres Landes, professionelle Ausbildung im konstruktiven Umgang mit Konflikten – und nicht zuletzt: Ermutigung.


Sozioökonomische Entwicklung

Wie religiöse Quellen für oder gegen Frieden interpretiert werden können, so können sie auch für oder gegen Entwicklung ausgelegt werden. Die religiöse Begründung sozioökonomischer Ungerechtigkeit oder politischer Enthaltsamkeit findet sich in allen Religionen und Kulturkreisen. Sie kann etwa autoritär-feudale Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen legitimieren und zementieren.

Entwicklung als Veränderung bestehender Strukturen wird dann zur religiösen Sünde, zur Schuld vor Gott. So wird etwa die Beschneidung von Mädchen unter Christen, Muslimen und Anhängern traditioneller afrikanischer Kulte praktiziert und jeweils auch religiös begründet. Die Verweigerung der Beschneidung gilt darum auch als religiöse Verfehlung, die zum Ausschluss aus der Dorf- und Familiengemeinschaft, zu sozialer Isolation, wirtschaftlichem Ruin und existentieller Schutzlosigkeit führt.

Gleichermaßen kann Entwicklung und Veränderung religiös begründet und gefördert werden: die (juristische) Gleichheit der Menschen, gerechte Wirtschaftsstrukturen, das Recht auf Leben und Würde, die Solidarität mit Benachteiligten und Schwächeren und anderes mehr. Nicht zufällig bieten in armen Ländern oft religiöse Einrichtungen Schul- und Berufsausbildung oder medizinische Versorgung an – eine Einflussmöglichkeit, die freilich allen möglichen Akteuren offensteht. Wo staatliche Versorgung ausbleibt, da konkurrieren religiöse und/oder politische Kräfte um die Position des Souveräns. Haben gemäßigte Organisationen nicht genügend Ressourcen oder eben nicht die erforderliche externe Unterstützung, das staatliche Versagen zu kompensieren, da übernehmen alsbald fundamentalistische oder extremistische Gruppierungen diese Rolle und sichern sich damit zugleich enormen religiösen und politischen Einfluss.

Auch dieses Phänomen ist nicht neu und in allen Religionen festzustellen. Und dennoch wird oftmals nicht oder viel zu spät reagiert, wie der schleichend wachsende Einfluss von Islamisten im Nahen Osten oder mancher radikaler Kirchen in Afrika deutlich macht. Anstatt frühzeitig und umfassender in Entwick­lungszusammenarbeit und gemäßigte religiöse Partner zu investieren, werden später unvergleichlich kostspieligere UN-Missionen oder gar Militärinterventionen finanziert.

Religionsbasierte Entwicklungsakteure aus wohlhabenden Staaten, etwa die kirchlichen Werke Misereor, Brot für die Welt oder Evangelischer Entwicklungsdienst, verfügen über langjährige Erfahrung und Expertise in entwicklungsbezogener Konfliktbearbeitung, über Sensibilität und geeignete Methoden in der Kooperation mit Projektpartnern vor Ort. Sie kennen entsprechend Konfliktursachen und Konfliktgebiete, Beteiligte und Betroffene, Hintergründe und Zusammenhänge. Sie registrieren eskalationsanfällige Entwicklungen lange vor dem Ausbruch von Gewalt und vor der langsam erwachenden Aufmerksamkeit von Medien und Politik. Sie haben die Kompetenzen zu sinnvoller Ergänzung politischer oder religiöser Vermittlungsbemühungen.

Die Religionen stehen in der Verantwortung, ihre Kompetenzen im Kontext von Entwicklung und Frieden auszubauen und offensiver anzubieten. Die Politik aber täte gut daran, Religionen und (nicht nur) religiöse Entwicklungsdienste als hilfreiche, mitunter zentrale Akteure konstruktiver Konfliktbearbeitung viel mehr zu konsultieren – und dann auch in die Pflicht zu nehmen.

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